Archiv für den Monat Juli 2009

Tote Mythen, Faulheit und Feigheit

Oft suggerieren wir Deutschen uns selbst, wir seien das Volk der Dichter und Denker. Und noch waren wir kein Nationalstaat, da machten wir aus einem Defizit mal schnell den ersten Mythos. Das Volk der Dichter und Denker war eine Redewendung, die die weit fortgeschritteneren Nationen England und Frankreich gebrauchten, als es dort bereits eine Amtssprache, einheitliche Steuersysteme, nationales Recht und einheitliche Währungen gab. Dort machte man sich eher lustig über die 36 Fürstentümer, die alle nach ihrer eigenen Facon regiert wurden, mal finster obskurantistisch, mal aufgeklärt. Es sollte Jahrhunderte dauern, bis ein Deutschland entstand, das den Namen des Nationalstaates verdiente und dann brauchte es jeweils nur kurze Zeit, um im Desaster zu zersplittern. Doch der Mythos von den Dichtern und Denkern lebt bis heute weiter, bis auf den Sachverhalt, dass weit und breit kein Kant, kein Hegel, kein Goethe, kein Schiller oder Heine mehr in Sicht sind.

Das industrielle Deutschland durchlief ähnliche Übungen. Hatte England mit der industriellen Revolution den Kapitalismus lange vorher eingeläutet und begaben sich Philosophen der sozialen Moderne wie Karl Marx nach London, um den fortgeschrittenen Kapitalismus aus nächster Nähe zu studieren, da regierten in Bayern und Preußen noch fleißig die Zünfte. Erst mit dem gewaltigen Etatismus eines durch die Aufklärung beflügelten Königs gelang Preußen der Anschluss an das industrielle Zeitalter. Da baute England schon lange und erfolgreich Eisenbahnen, die auf der ganzen Welt zum Einsatz kamen. Als die Borsig Werke dann mit ihren Schienenrossen auf den Weltmarkt strebten, setze England durch, dass diese mit dem diskriminierenden Label Made in Germany versehen werden mussten, um auf die Rückständigkeit gegenüber dem englischen Konkurrenzprodukt hinzuweisen. Doch man verstand es wieder, aus einer ursprünglichen Schwäche einen Mythos zu weben, der bis heute zunehmend substanzlos, aber immer noch umherflattert.

Seit dem II. Weltkrieg, in dem sehr viele deutscher Mythen im Orkus der erlebten Geschichte verschwanden, übt sich das traumatisierte Volk in der Konstruktion negativer Mythen, vom Supergau bis zum Waldsterben. Die Szenarien traten nie ein, aber sie gebaren sogar Parteien, die heute zum parlamentarischen Standard gehören. Der Drang, sich Mythen zu kreieren ist indes ungebrochen. Fast monatlich jagen Bilder, die den Untergang und das Katastrophale lüstern illustrieren durch die Sphären der Öffentlichkeit und tragen den neuen Mythos, und heißt er auch Schweinegrippe, wie eine mittelalterlich zelebrierte Monstranz vor sich her.

Die neuerliche Inflation von Mythen ist ein beredter Hinweis auf den wachsenden Unwillen, sich seines eigenen, urteilenden Verstandes zu bedienen. Dort, wo die Tiefe sich in phänomenologischer Beschreibung erschöpft, ist kaum noch Platz für den Mut der Kritik. Diejenigen, die es dennoch tun, werden zunehmend als Störenfriede jenseits des politischen Konsenses befehdet. Stattdessen deuten Tiefenpsychologen das Fragile der Volksseele und bieten Deutungen voller Empathie. Immanuel Kant kannte die moderne Psychologie noch nicht und Mythen waren ihm, dem Pionier der Aufklärung, ein ziemliches Gräuel. Deshalb wohl fand er so unbestechliche Worte für den Unwillen, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen. Er nannte es Faulheit und Feigheit.

Egomanie als politisches Programm

Max Weber, der Soziologe mit Scharf- und Weitblick, der sich der Wechselwirkung von Wirtschaft und Gesellschaft ebenso klug wie der Säkularisierung unserer Gedankenwelt widmete, von diesem Max Weber stammt ein fast lakonisch formulierter Satz, den wir uns heute zu eigen machen sollten, um das genauer zu betrachten, was als phänomenologisches Mirakel durch die Gazetten und Internetseiten gejagt wird. „Politik ist Herrschaft der Verwaltung im Alltag.“

Was als Selbstverständlichkeit durch den Gehörgang an unseren Verstand und unser Bewusstsein zu klopfen scheint, entpuppt sich als eine Botschaft mit explosiver Nachwirkung. Wenn dem so ist, dann wäre der Zustand der Politik noch schlechter als oftmals gefühlt. Nicht, dass Verwaltungen in den letzten Jahrzehnten nicht versucht hätten, sich mit Dienstleistungsangeboten den Bürgerinnen und Bürgern zu nähern. Nicht, dass Verwaltungen nicht versucht hätten, ihr Handeln verständlicher zu machen. Und erst gar nicht, dass wir den Verwaltungen par excellence unterstellen müssten, sie verstünden sich als Herrschaftsinstrument!

Nur, bei genauem Hinsehen ist selbst einem nicht mehr ganz so scharfen Auge recht schnell klar, dass die Steuerung der Verwaltung durch die Politik bis auf wenige Ausnahmen darin besteht, die exklusiv politisch beschlossene Entmündigung der Bürgerschaft durch ein immer dichter werdendes Netz von Regelungen und Verordnungen aggressiv durchzusetzen. Zugrunde liegt ein Weltbild, das in seiner Tiefe fußt auf Misstrauen und Verachtung. Misstrauen in die bewusste und freie Entscheidung selbstständiger Individuen und Verachtung gegenüber denjenigen, die ohne Bevormundung ihr Leben selbst nicht mehr gestalten könnten. Der Verfall der Bildung und die Erosion der Werte, die durch Erziehung vermittelt werden, tragen dazu bei, den Herrschaftsmythos des wohlmeinenden Staates über seine unmündigen Glieder zu etablieren.

Das entspräche insoweit alten Klischees von Herrschaft und Unterdrückung, wenn wir auf Seiten der Macht die universal Gebildeten und auf Seiten der Bemächtigten die Dummen sähen, die die heute Mächtigen so gern als Bildungsferne bezeichnen. Doch, so ist leicht festzustellen, dem ist nicht so. Die politische Klasse unterscheidet sich weder in ihrem Bildungsgrad noch in ihrer sittlichen Qualität signifikant von denen, mit denen sie es gerne treiben. Die Bürgerschaft wird gegängelt durch Bevormundung von temporär Herrschenden, die an ihre eigene Begünstigung denken und in den meisten Fällen nicht einmal mehr im Bewusstsein haben, in welchem Auftrag sie eigentlich handeln. Sie werden getrieben von profaner Egomanie.

„Politik ist Herrschaft der Verwaltung im Alltag.“ Das nicht nur Beschreibung, sondern gerinnt angesichts unserer täglichen Erfahrung zu einer bitteren Erkenntnis. Aber Wut allein macht es nicht aus, appellierte Berthold Brecht und fügte ebenfalls lakonisch hinzu: „So etwas muss praktische Folgen haben.“

Der Trug des anthropozentrischen Denkens

Seit der bewussten Existenz des homo sapiens, d.h. seitdem ein kollektives Gedächtnis, sprich eine Geschichte der menschlichen Gattung vorliegt, sind immer wieder Zweifel aufgekommen, ob der Mensch die Endbestimmung aller Entwicklung ist. Und mit allen Zweifeln wurde immer wieder festgeschrieben, dass die Sterblichkeit des Individuums den Traum vergellte, das Telos der Weltgeschichte zu sein. Nein, so hieß es immer wieder, wir wissen ja, dass wir endlich sind und wir wissen, je mehr uns über die kosmische Dimension bekannt wird, dass wir ein kleines Kristall einer großen Entwicklung sind, in der wir episodisch existieren. Das wussten die Philosophen der Antike genauso wie die der Moderne, die von einer Dialektik der Natur sprachen.

Dennoch haben jeweils diejenigen, die in den verschiedenen Epochen zur Macht gellangten und ihrerseits wiederum in der Macht die Endbestimmung ihres Daseins sahen, geglaubt, sie könnten sich unsterblich machen, indem sie die Macht selbst ständig vergrößerten und ihre Symbolik in das große Areal der Götter stellten, die für den großen, unerfüllten Traum von unendlicher Macht und Unsterblichkeit herhalten mussten. Aber selbst die größten Titanen sahen irgendwann ihre Stunde kommen, sie wurden gemeuchelt oder sie fielen durch eigenen Irrtum, sie traten zuweilen ein in das Reich des Todes und hatten nicht einmal die Münzen für den Fährmann mitbekommen, weil der Wahn des Übergroßen sie lächerlich gemacht hatte. Zuweilen hieß es sogar: „Töte ihn nicht, aber lasse ihn leiden.“

Und immer wieder rieben sich die Menschen die Augen und schluckten schwer, weil sie es doch wussten, wie trügerisch es war, sich selbst über die Existenz des kleinen Kristalls zu erheben und sich in kosmischen Dimensionen als Hauptakteure zu sehen. Für einen Augenaufschlag der Geschichte glänzten diese kleinen Kristalle der menschlichen Existenz durch Demut und der große Weltgeist konnte für einen kurzen Moment glauben, dass das Weltgefüge wieder die Balance erhielte, die ihm gebührte. Aber kaum wendete der große Demiurg sich ab, um wichtigeren Geschäften nachzugehen, da fingen die unbelehrbaren Menschen wieder an zu bauen, als wollten sie ewig leben und zu essen, als müssten sie morgen sterben. Das zürnte den Weltgeist und verdarb den Menschen ihr eigenes Dasein, weil sie alles zerstörten, was sie eigentlich brauchten, um halbwegs vernünftig auch in der Zukunft zu leben. Aber es half alles nichts, dort, wo es Reichtum und Macht, und vor allem nicht die Sorge gab, wie man das Morgen überlebt, dort brach die Seuche immer wieder aus.

Die Natur, so schrieb Nietzsche, wird irgendwann die Menschheit von sich abschütteln wie ein Ochse eine lästige Fliege. Wie in vielem wird dieser tragische Mann auch in diesem Recht behalten. Die Spannung zwischen den großen Machtzentralen dieser Erde und dem unendlichen Kosmos einerseits und den Wünschen nach Größe und der eigenen Fehlbarkeit andererseits lässt uns trunken werden. Die Bilder verschwimmen, solange wir uns an dem Gift benebeln, wir wären einzigartig und unersetzbar. Aber der Blick schärft sich, wenn der Moment als das Universum der eigenen Verantwortung in die tiefen Sphären des Bewusstseins dringt!