Oft suggerieren wir Deutschen uns selbst, wir seien das Volk der Dichter und Denker. Und noch waren wir kein Nationalstaat, da machten wir aus einem Defizit mal schnell den ersten Mythos. Das Volk der Dichter und Denker war eine Redewendung, die die weit fortgeschritteneren Nationen England und Frankreich gebrauchten, als es dort bereits eine Amtssprache, einheitliche Steuersysteme, nationales Recht und einheitliche Währungen gab. Dort machte man sich eher lustig über die 36 Fürstentümer, die alle nach ihrer eigenen Facon regiert wurden, mal finster obskurantistisch, mal aufgeklärt. Es sollte Jahrhunderte dauern, bis ein Deutschland entstand, das den Namen des Nationalstaates verdiente und dann brauchte es jeweils nur kurze Zeit, um im Desaster zu zersplittern. Doch der Mythos von den Dichtern und Denkern lebt bis heute weiter, bis auf den Sachverhalt, dass weit und breit kein Kant, kein Hegel, kein Goethe, kein Schiller oder Heine mehr in Sicht sind.
Das industrielle Deutschland durchlief ähnliche Übungen. Hatte England mit der industriellen Revolution den Kapitalismus lange vorher eingeläutet und begaben sich Philosophen der sozialen Moderne wie Karl Marx nach London, um den fortgeschrittenen Kapitalismus aus nächster Nähe zu studieren, da regierten in Bayern und Preußen noch fleißig die Zünfte. Erst mit dem gewaltigen Etatismus eines durch die Aufklärung beflügelten Königs gelang Preußen der Anschluss an das industrielle Zeitalter. Da baute England schon lange und erfolgreich Eisenbahnen, die auf der ganzen Welt zum Einsatz kamen. Als die Borsig Werke dann mit ihren Schienenrossen auf den Weltmarkt strebten, setze England durch, dass diese mit dem diskriminierenden Label Made in Germany versehen werden mussten, um auf die Rückständigkeit gegenüber dem englischen Konkurrenzprodukt hinzuweisen. Doch man verstand es wieder, aus einer ursprünglichen Schwäche einen Mythos zu weben, der bis heute zunehmend substanzlos, aber immer noch umherflattert.
Seit dem II. Weltkrieg, in dem sehr viele deutscher Mythen im Orkus der erlebten Geschichte verschwanden, übt sich das traumatisierte Volk in der Konstruktion negativer Mythen, vom Supergau bis zum Waldsterben. Die Szenarien traten nie ein, aber sie gebaren sogar Parteien, die heute zum parlamentarischen Standard gehören. Der Drang, sich Mythen zu kreieren ist indes ungebrochen. Fast monatlich jagen Bilder, die den Untergang und das Katastrophale lüstern illustrieren durch die Sphären der Öffentlichkeit und tragen den neuen Mythos, und heißt er auch Schweinegrippe, wie eine mittelalterlich zelebrierte Monstranz vor sich her.
Die neuerliche Inflation von Mythen ist ein beredter Hinweis auf den wachsenden Unwillen, sich seines eigenen, urteilenden Verstandes zu bedienen. Dort, wo die Tiefe sich in phänomenologischer Beschreibung erschöpft, ist kaum noch Platz für den Mut der Kritik. Diejenigen, die es dennoch tun, werden zunehmend als Störenfriede jenseits des politischen Konsenses befehdet. Stattdessen deuten Tiefenpsychologen das Fragile der Volksseele und bieten Deutungen voller Empathie. Immanuel Kant kannte die moderne Psychologie noch nicht und Mythen waren ihm, dem Pionier der Aufklärung, ein ziemliches Gräuel. Deshalb wohl fand er so unbestechliche Worte für den Unwillen, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen. Er nannte es Faulheit und Feigheit.
Du muss angemeldet sein, um einen Kommentar zu veröffentlichen.