Archiv für den Monat August 2010

Woher kommst du?

In einem Zeitalter, das sich durch eine gewaltige Globalisierungswelle definiert und in dem der Ruf nach interkultureller Kompetenz so laut geworden ist wie nie zuvor, muss es irritieren, dass die Frage nach der Herkunft in der praktischen Konversation ziemlich aus der Mode gekommen ist. In unseren Breitengraden gilt es mehr als eine unredliche Penetrierung der Intimsphäre als an ein Signal aufrichtigen Interesses, sich nach dem Herkommen des Gegenübers zu erkundigen. Und dieses sowohl im geographischen und sozialen Kontext wie hinsichtlich der historischen Tradition. Irgendetwas scheint verstellt zu sein im Blickfeld des Reisenden, der zunehmend den Durchschnittstypus des 21. Jahrhunderts auszumachen scheint.

Aufgrund von Dogmen der Political correctness und eine sich in exzentrische Vermeidungsstrategien gesteigerte Konfliktscheue ist etwas abhanden gekommen, das in früheren Epochen das Tor der Erkenntnis immer sehr weit aufgestoßen hatte: Die Neugierde auf das Unbekannte, das Wissen-Wollen in Bezug auf eine fremde Welt und das Austarieren dessen, was das Fremde an Bereicherung mit sich bringt.

Von den oralen Gesellschaften bis zum europäischen Mittelalter, von den fahrenden Handwerksgesellen bis hin zu den Handelvertretern des frühen 20. Jahrhunderts haben sich die Europäer viele ihrer Erkenntnisse durch die mündliche Weiterreichung von Erfahrungsberichten erworben. Das Ritual, welches diese Art von Bildung eröffnete, quasi die Initiationsfrage war dabei immer: Woher kommst du, Fremder?

So scheint es nicht verwunderlich zu sein, dass wir, der heutige antike Westen, uns eine Erfahrungsquelle verschlossen haben, die auf anderen, von Energie sprudelnden Kontinenten wie dem asiatischen vitaler ist denn je. Die Blockierung der Neugierde aus Furcht, man könne etwas Falsches fragen, führt zu einer Provinzialisierung der eigenen Erfahrungswelt mit schrecklichen Folgen. Bis auf das abstrakte Informationsagglomerat aus dem Netz verfügen wir über immer weniger unmittelbare Erfahrungen. Letztere, so lehrt uns auch die historische Anthropologie, sind jedoch der Humusboden für eine Lebenspraxis, die tatsächliche Aussicht auf Erfolg hat.

Und schlimmer noch: In dem Maße, in dem wir die Frage nach der Herkunft den Anderen nicht mehr stellen, in demselben Maße geht uns die Reflexion über die eigene Existenz verloren. Nur der Vergleich mit dem Dasein des Gegenübers ermöglicht es, den eigenen biographischen Verlauf zu bewerten. Wir müssen leider lernen, dass die immer geringer werdende unmittelbare Erfahrung hinsichtlich der Identität und Lebensgeschichte der Menschen, denen wir begegnen, zu einer stetigen Verarmung an profundem Wissen über uns selbst folgt.

Wir sind an einem Punkt, an dem die Kommunikationswissenschaft ohne die Perspektive der Anthropologie nicht mehr auskommt. Kulturen, die sich die Neugierde nach dem Befinden des Reisenden bewahrt haben, gelten als die Biotope, in denen das, was wir heute die interkulturelle Kompetenz nennen, in einer beneidenswerten Blüte steht.

USA: The Bimbo will es richten

Um Missverständnissen vorzubeugen: Im amerikanischen Sprachgebrauch steht der Terminus Bimbo für eine Tussi. Zu denen zählt man Frauen, die im Gefolge von Celebrities zu sehen sind und sich durch bestimmte Dienste die Möglichkeit verschaffen, um im Rampenlicht zu stehen. Im Wahlkampf um die US-Präsidentschaft zauberte der republikanische Herausforderer John McCain die bis dahin relativ unbekannte Gouverneurin von Alaska, Sarah Palin, aus dem Hut und setzte sie als Kandidatin für die Vize-Präsidentschaft. Letztere sorgte mit ihrer Burschikosität und Revolvernonchalance für manche Peinlichkeit und erwarb sich nach kurzer Zeit das Markenzeichen eines Bimbos. Die amerikanische Öffentlichkeit nahm sie nicht sonderlich ernst, McCain selbst reüssierte nicht mehr in dem Wahlkampf und Barack Obama wurde Präsident.

Nun, nicht einmal zwei Jahre nach dem republikanischen Debakel, das in erster Linie auf die entsetzliche Bilanz der Ära Bush zurückzuführen war, wird ausgerechnet die skandalgeschüttelte Sarah Palin, The Bimbo, zur Protagonistin einer inszenierten Erneuerungsbewegung. Der ultrakonservative TV-Moderator Glenn Beck, bei dessen Ansprachen man unweigerlich den Eindruck gewinnt, in eine fundamentalistische Versammlung geraten zu sein, wartete mit einem Setting auf, das provokanter nicht sein konnte: Auf dem Platz vor dem Capitol zu Washington rief er zu einer Massenkundgebung, genau am 47. Jahrestag der berühmten Rede Martin Luther Kings, in der jener mit der berühmten Sequenz „I had a dream..“ die Vision einer demokratischen Gesellschaft ohne Rassendiskriminierung aufgerufen hatte. Unter dem Slogan Tea Party mit Rekurs auf den Bostoner Aufstand gegen die britische Kolonialherrschaft, rief Glenn zu einer Manifestation gegen die Politik Obamas. Damit wurden die demokratischen Traditionen der USA auf den Kopf gestellt und zwei Monate vor den Kongresswahlen eine militante Kampfansage an die Demokraten formuliert.

Hauptrednerin war ausgerechnet jene Sarah Palin, die selbstverständlich für Waffenfreiheit, Law and Order, private Krankenversicherungen, militärische Dauerexpansion und alle möglichen Arten von Diskriminierung in der multi-ethnischen US-Gesellschaft steht. Sie ist das Kanonengirl der White Anglo Saxon Protestants, das mit seiner Schnoddrigkeit den Glauben an eine politische Kultur außer Kraft setzt. Sowohl sie als auch der nunmehr 74jährige John McCain haben angekündigt, bei der nächsten Wahl noch einmal ins Rennen zu gehen und das Rad in die Bush Ära zurückdrehen zu wollen.

Die so genannte Tea Party zeigte sich als eine Kampagne des ultrakonservativen Amerikas, das den historischen Wandel der Welt und des eigenen Landes nicht zur Kenntnis nehmen will. Das tatsächlich unerträgliche Gezwitscher einer Sarah Palin auf Twitter, welches für jedermann zugänglich ist, dokumentiert die intellektuelle Überforderung des republikanischen Konservatismus mit den Herausforderungen der Globalisierung. Die USA sind eine alte Demokratie und es wird sich zeigen, wie das neue, andere Amerika darauf reagieren wird.

Ein letzter Höhepunkt vor dem Tod

Chet Baker. The Legacy

Ein Mann, der einen solchen Lebenswandel führt, wird nicht alt. Angesichts seines exzessiven Drogenkonsums, seines ständigen Tourens, das so intensiv war, dass er manchmal selbst nicht mehr wusste, wo er sich befand, angesichts seiner Autounfälle aufgrund von Drogen und Übernächtigung, seiner Aufenthalte in Ausnüchterungszellen und seinem furchtbaren Umfeld grenzt es an ein Wunder, dass Chet Baker 53 Jahre alt wurde. Selbst sein Tod war legendär, er lag vor seinem Hotel in Amsterdam, wo er sich in den letzten Monaten aufhielt. Die Theorien gingen vom Sturz aus dem Hotelfenster im Rausch bis zu einer Gewalttat durch rücksichtslose Dealer. Sein Tod lieferte sogar Stoff für Romane.

Chet Baker, der bereits seit Jahren ein physisches Wrack war, machte sich wenige Monate vor seinem Tod auf ins Hamburger Audimax, um am 14. November 1987 zusammen mit der NDR Big Band ein Konzert zu geben, das in die Geschichte eingehen sollte. Nicht nur, weil es sein letztes in Deutschland war, sondern weil es diesen begnadeten und virtuosen Trompeter in einer Form zeigte, die einer Genialität entsprang, die vielleicht nur durch die Vorahnung des eigenen Endes zu erklären ist.

Dabei hatte Chet Baker Stücke ausgesucht, die zu den Klassikern des Jazz zählten und vor allem das Balladenhafte und Bluesige unterstrichen. Here´s That Rainy Day, How Deep Is The Ocean, Mister B, In Your Own Sweet Way, All Of You, Dolphin Dance, Look for The Silver Lining, Django und All Blues; das erste Set, welches unter dem Titel Legacy später erschien. Live, mit einer NDR Big Band, die den Anschein erweckte, als hätte sie nie etwas anderes gemacht, als mit diesem Ausnahmetrompeter schon immer gespielt zu haben und ein Chet Baker, der mal modal, mal mit flinken Figuren und dann wieder mit einem samtigen Ton etwas hervorzaubert, das das Attribut des Einmaligen ohne Übertreibung verdient. Hatte er bei den ersten Stücken das Sanfte in den Fordergrund gestellt, so brilliert er vor allem bei Look For The Silver Lining mit raschen Tempiwechseln und einer Geschicklichkeit, die noch einmal an die frühen Jahre erinnert, als er beim Covern von Miles Davis Milesstones diesen herausgefordert hatte. Bei dem John Lewis Stück Django zitiert Chet Baker die ganze Trauer, die das Dasein mitzubringen vermag, um dann mit einer geschickten Rhythmisierung an die Dynamik zu erinnern, die die Suche nach dem Ausweg mit sich bringt. Und All Blues, der Hymne auf den Blues per se, interpretiert er auf eine Weise, die den Herzmuskel zusammenzieht.

Beim Hören dieser CD wird man den Eindruck nicht los, dass der Trompeter Chet Baker hier sein Testament in Form eines Live-Auftritts geschrieben hat. Es ist ein Konzert mit der Dimension dokumentierter Jazz-Geschichte. Wer beim Anhören dieser Aufnahme nicht spürt, was dort geschieht, der sollte sich ein anderes Genre suchen. Wer diese Aufnahme nicht hat, um sie als ein Refugium für das eigene Seelenleben zu nutzen, dem entgeht nicht nur ein musikalisches Großereignis erster Güte.