Archiv für den Monat September 2011

Die Balance zwischen Freiraum und Intervention

Hört man sich den politischen Diskurs in diesen Tagen an, dann könnte man meinen, das Vertrauen in die Handelnden außerhalb des eigenen Bezugssystems tendiere gegen Null. Der Streit der Meinungen dreht sich ausschließlich um die einzusetzenden Instrumente, vermittels derer die Intervention in die gesellschaftlichen Verhaltensfelder gestaltet wird. Ein Vertrauen in die selbständig Handelnden und ein Verständnis über das Wesen gesellschaftlicher Lernprozesse scheint nicht vorzuliegen.

Es wäre ein wenn auch gerne gemachter Fehler, die beobachtete Denkweise der Politik als Unikat zuzuweisen. Auch in Unternehmen, Gewerkschaften, Verbänden und Vereinen haben wir es mit einer Degression der Freiheit zu tun. Unter der allgemeinen Klage der erodierenden Bildung und des Werteverfalls werden genau die Prozesse liquidiert, aus denen Wissen, Fertigkeiten und Ethik erwachsen. Das Handeln des selbstbestimmten Individuums ist immer noch Grundlage von Lernprozessen und den daraus erwachsenden Befähigungen.

Die Hegemonie der instrumentellen Vernunft, der Glaube, soziale, gesellschaftliche und politische Problemlagen durch den Einsatz bestimmter Instrumente oder Regelungen lösen zu können, hat sich gespeist aus der Furcht vor der tiefen menschlichen Erkenntnis und, so bringt es das Schicksal des enthüllenden Einblicks mit sich, dem daraus resultierenden Konflikt. Disput, Auseinandersetzung und Kampf sind Formen einer Inkongruenz von Interessen, deren Wesen man erst zu begreifen lernt, wenn einem die Freiheit gegeben ist, ein Handeln, das man für richtig hält, auszuprobieren. Das Scheitern aufgrund eigener Fehlannahmen oder Verhaltensweisen sowie einer nicht zu durchbrechenden Machtstruktur verursacht einen Lernprozess, der an Nachhaltigkeit nicht zu überbieten ist. Die große Kunst politischen Handelns ist das Maß zwischen Freiraum und Intervention zu finden.

Bei der Betrachtung vor allem der politischen Steuerung dieses Landes sticht ins Auge, dass nichts so gefürchtet zu sein scheint, wie das selbständige Handeln und Lernen der Bürgerinnen und Bürger. Selbst wenn wir keine Absicht unterstellten, was sowieso zu nichts führt, so scheint zumindest eine instinktive Angst vor der eigenen Existenzbedrohung die politisch Handelnden dazu zu treiben, den Prozess der Entmündigung der Bürgerschaft immer aggressiver und gnadenloser vorwärts zu treiben. Denn Handlungsunfähige bedürfen der Hilfe, und das Dasein der Ritter der Erlösung ist auf immer gesichert.

Angesichts der Angriffe auf die Freiheit und das Selbstbestimmungsrecht der Bürgerschaft erscheinen die Partizipationsangebote an bestimmte partikulare Gruppen des neuen Mittelstandes als ein ziemlich abgeschmacktes Manöver, das nur so lange fruchtet, wie die Enthüllung im Verborgenen liegt, dass es sich bei Vielen dieser Provenienz um befremdend egoistische Subjekte handelt.

Wie weit die Degression des freien Willens fortgeschritten ist, bemisst sich an dem Zeitraum, wie lange es dauert, bis die Entmündeten den Befriedungskontrakt auflösen. Und je entmündeter, desto grausamer wird das Erwachen.

Mehr Zentralismus, Bürokratie und Durchgriff

Am Sonntagabend, nach dem Tatort, in der letzten Stunde der Besinnlichkeit vor einer neuen Arbeitswoche, bekam die Kanzlerin ihr Forum, um einigen Millionen Mitbürgerinnen und Mitbürgern ihre Vision von der Zukunft in diesen schweren Zeiten mitzuteilen. Sie, die sich bekanntermaßen ohne programmatische Aussage erfolgreich durch die Politik laviert, von der niemand so recht weiß, wofür sie eigentlich steht außer dem Machterhalt und von der folglich alle glauben, dass sie eine visionslose Funktionärin ist, öffnete sich in verblüffender Weise.

Nicht, dass diese Öffnung Grund für ein befreites Aufatmen oder Anlass zu großer Freude gewesen wäre, nein, die einzige Regung, mit der die Reaktion auf Merkels ungewohnte Offenheit beschrieben werden kann, ist die der Bestürzung. Um es kurz zu machen: Die Kanzlerin legte für die Zieldefinition Europas einen Paradigmenwechsel hin, der schlimmer nicht sein könnte. Sie ersetzte die Vorstellung von den Vereinigten Staaten von Europa durch eine europäische UdSSR. Sie propagierte die Abkehr von einem gemeinsamen Markt inklusive Währung bei gleichbleibender Autonomie der Mitgliedsstaaten, eben nach dem Vorbild der USA, mit einer souveränen Rechtsprechung der einzelnen Mitglieder und einer relativ autonomen Politik, hin zu einem zentraleuropäischen Moloch, der mit einer gigantischen Bürokratie alles plant und regelt. Immer wieder war von Durchgriff die Rede, der erforderlich sei, um Europa zu retten.

Das sind Begrifflichkeiten und Gesten, die aus dem Arsenal des Staatssozialismus und der Planwirtschaft stammen und mit einer freiwilligen Assoziation von Staaten nicht mehr harmonieren. Das Ganze kommt nicht von ungefähr, sondern ist das Resultat eines seit Jahren etablierten Dirigismus und Subventionismus, ausgehend von der Unfähigkeit des Marktes, die einzelnen Länder so zu entwickeln, wie es für sie auskömmlich wäre. Die Illusion, einen gemeinsamen Markt durch eine einheitliche Währung zu stabilisieren, ist seit langem tot. Dieses war nur folgerichtig, weil niemand brutaler und ehrlicher die Wertigkeit von Ökonomien ins Buch einträgt wie der Markt. Um dieses zu kaschieren, wurden immer wieder zentral gesteuerte Programme aufgesetzt, um Infrastrukturen zu entwickeln und Politikverhalten zu stimulieren. Nur funktioniert hat es nicht. Merkels Mittel dagegen heißt hingegen mehr Interventionismus.

Im Grunde genommen handelt es sich bei ihren Ausführungen um eine Adaption der Konzeption der UdSSR auf das ehemals freie Europa. Nicht im Sinne politischen, aber bürokratischen Terrors gegen alle Wertschöpfenden, die nicht mehr durch ihre Kreativität und ihre Produktivität von einer Resonanz der Nachfrage beurteilt werden, sondern von einer zunehmend despotischer werdenden Bürokratie, die die wirtschaftlichen Leitfäden entwickelt und mit einer geplanten gigantischen Exekutive die Planungsmargen aus der Zentrale des Big Brother durchsetzt.

Mit dem sonntäglichen Plauderstündchen hat Frau Merkel einen tiefen Einblick in ihre politische Befindlichkeit gegeben und wir sollten ihr dafür dankbar sein. Da hat eine durchaus befähigte Managerin des Politikalltags einer Mittelmacht so gewaltig die Katze aus dem Sack gelassen, dass man sich ob der Ungeheuerlichkeit ihrer Thesen erst einmal die Augen reiben muß. Zwanzig Jahre nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und ihrer Satellitenstaaten kommt eine westeuropäische Staatschefin daher und erklärt, die Zukunft des Kontinents liege in einem zentralistischen und bürokratischen Planungskonstrukt. So übersetzt eine Protestantin aus Mecklenburg die asiatische Despotie in die europäische Moderne des 21. Jahrhunderts. Chapeau!

Alltagssorgen im Multi-Kulti-Tempel

Do The Right Thing. Regie: Spike Lee.

Obwohl der Film vor über zwanzig Jahren in die Kinos kam, lohnt es sich unbedingt, ihn noch einmal oder überhaupt anzuschauen. Der Regisseur Spike Lee hatte mit seinem damaligen Konzept einen Low-Budget-Film gedreht und in den USA damit einen beachtlichen Kinoerfolg gelandet. Da wir das Jahr 1989 schrieben, ging das Stück hier in Deutschland während des Wiedervereinigungsprozesses nahezu unter, obwohl die Problematik, der Alltag und die Koexistenz von Multi-Kulti selten so gut und tabulos inszeniert wurde.

Die Geschichte spielt in einer schwarz dominierten Neighborhood in New Yorks Brooklyn, und dort wiederum in Bedford Stuyvesant. In den Straßenzügen, um die es geht, leben mehrheitlich Schwarze, gefolgt von Latinos. Die Geschäftswelt besteht aus einer von Italienern betriebenen Pizzeria und einem kleinen Supermarkt, den eine koreanische Familie führt. Mit damals noch sehr unbekannten Schauspielern bevölkert Spike Lee, der auch eine nicht ungewichtige Nebenrolle spielt, das Viertel und es entwickelt sich eine Alltagsgeschichte, die sich an den gegenseitigen Vorurteilen, aber auch den funktionierenden Arrangements untereinander abarbeitet. Den dramaturgischen Rahmen liefert eine anhaltende Hitzewelle, die schwelende lokale Brandstellen zu einem Flächenbrand anwachsen lassen, den letztendlich niemand will und der allen schadet.

Trotz einer alles andere als gut ausgehenden Erzählung ist es in dem Film gelungen, die einzelnen Typologien der agierenden Ethnien in ihrer jeweiligen Widersprüchlichkeit, in ihrer nicht mit der amerikanischen Gesellschaft korrespondierenden Eigenartigkeit, ihrer Fehlerhaftigkeit und ihren Kernkompetenzen mit Ironie und Selbstironie darzustellen. Das Erfrischende ist die überall lesbare Botschaft, dass es kein Gut und Böse gibt, sondern eine Vermengung von handlungsorientierten Stärken und phlegmatischen Mängeln, jeweils nur anders geartet und somit nicht harmonierend. Viele Szenen berauschen regelrecht in der Entlarvung von Klischees, es sind Dialoge, die beispielhafter nicht sein könnten für das große Thema der Integration und Koexistenz, ja Konkordanz.

Da sind der schwarze DJ eines Piratensenders, der italienische Pizzabäcker und der puertoricanische Streifenpolizist um vieles weiser als so manche zeitgenössische Integrationsexperten, die von einer eschatologischen Blaupause ausgehen statt vom tatsächlichen Leben. Gerade die Arbeitslosen und Streuner, die Hilfsjobinhaber und Kleingewerbetreibenden in Bedford Stuyvesant haben mehr Erfahrung in Fragen, wie die Unterschiede im Alltag organisiert werden und wie machtlos ein organisierter Staat ist. Wenn die intrinsische Motivation und die Einsicht nicht vorliegen, das Miteinander auf engem Raum erfolgreich gestalten zu wollen, dann scheitern alle Initiativen. Ein hoch aktueller Film, der durch seinen Verzicht auf die Verschleierungsideologie der Political Correctness besticht.