Sonny Rollins Quartet: Tenor Madness
Manche Ereignisse von weit reichender Bedeutung kommen nicht selten eher bescheiden daher. So mochte der Qualitätsprüfer von Ford, ein gewisser Oswald Krause, nicht geahnt haben, dass seine Initialen einmal weltweite Bedeutung erlangten, ohne dass man sich seiner noch erinnerte. Und die Briten werden es heute noch bereuen, die deutschen Eisenbahnbauer mit dem Signet Made in Germany diskriminiert haben zu wollen. Als am 24. Mai 1956 der junge Sonny Rollins ins Studio Hackensack in New Jersey ging, um mit der Rhythm Section von Miles Davis einige Aufnahmen einzuspielen, war es kein Zufall, dass sich auch John Coltrane einfand, der damals bereits zu einer Ikone in der Jazzwelt wurde. Und so kam es, dass der 26jährige Sonny Rollins dem vier Jahre älteren Giganten Coltrane den Kampf ansagte. Was folgte, war Tenor Madness.
Das Stück hatte mit einem Duett begonnen, das tatsächlich mit unter dem Titel Tenor Madness in die Geschichte eingehen sollte. Nach dem unisono gespielten Thema folgten die ersten Variationen des jeweiligen Gegenspielers. Auffallend ist die charakteristische Kontur der Beiden. Dem kristallinen und klaren Ton Coltranes steht ein kraftvoller, markanter, aber ungeschliffener Rollins´gegenüber. Und während Coltrane seine Läufe in rasender Geschwindigkeit durch die Sphäre schießt, schlägt Rollins krächzend, wie mit einem tonalen Meißel, die Akkordfolgen in seine Sequenzen. Da konkurrieren und korrespondieren Virtuosität und Ausdruck miteinander, ohne das auf der Gegenseite die Brillanz des anderen zu vermissen wäre. Tenor Madness zeigt das Aufeinandertreffen zweier Giganten des Tenor Saxophons und das Initial für eine Entwicklung, die beide Musiker mit ihrem lakonisch geführten Konkurrenzkampf nicht beabsichtigt hatten.
Generationen von Tenoristen nach ihnen nahmen Tenor Madness zum Anlass inoffizieller Weltmeisterschaften. Jeder, der etwas auf sich hielt und meinte, seinen Anspruch auf Meisterschaft reklamieren zu können, arbeitete sich an Tenor Madness ab. Und obwohl nicht selten messerscharfe Hochgeschwindigkeitsläufe und krächzende Akkorde dabei herauskamen, die geniale, nahezu saurierhafte Artikulation eines Sonny Rollins oder die außerirdische Inszenierung des Crescendo eine John Coltranes wurden nie erreicht.
Es sei erwähnt, dass bei der vorliegenden CD, die aus der Serie der Rudy Van Gelder Remasters – übrigens in einer bestechenden Qualität, nicht nur was die Klangschärfe, sondern auch die Dynamik betrifft – stammt, Sonny Rollins noch auf vier weiteren Stücken mit Red Garland (piano), Paul Chambers (bass) und Philly Joe Jones (drums) zu hören ist.
Durchweg besticht der damals neuartige, heute so unverkennbare Stil Sonny Rollins, genauso wie die Exzellenz der Musiker aus der Miles Davis Formation zu identifizieren sind. Bei When Your Lover Has Gone sind es der Basslauf von Paul Chambers und die Drumbridge von Philly Joe Jones, Bei Paul´s Pal ist es wiederum Paul Chambers, der demonstriert, wie die Avantgarde der fünfziger Jahre die Freiheit des Bass entdeckte und bei My Reverie ist es Red Garland, der einen Teppich legt, der besser nicht sein könnte als spärliches Ornament für den groben Tonduktus Sonny Rollins.
Tenor Madness ist ein Schlüssel zum Verständnis des modernen Jazz schlechthin.
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