Die wesentlichen Existenzformen von Herrschaft konzentrieren sich auf physische oder spirituelle Macht. Physische Herrschaft ist in der Regel sehr einfach auszumachen, man sieht Gewehre oder Panzer, Stacheldraht oder Gefängnisse. Ihren Charakter zu entlarven bedarf es nicht viel, zu deutlich sind ihre sinnlich wahrnehmbaren Wirkungen. Bei der immateriellen oder auch spirituellen Macht ist es weitaus schwieriger. Ihre Mechanismen wirken im Verborgenen, weniger Sichtbaren. Umso leichter fällt es den Mächtigen oder dem Prinzip, das es auch sein kann, die eigene Existenz als eine repressive zu leugnen und die Anklagenden als Überreizte oder Verrückte zu stigmatisieren.
Meine javanischen Freunde pflegten mir, wenn ich ihnen zeitlich ehrgeizige Pläne zur Durchführung von Organisationsabläufen vorlegte, die Antwort zu geben, dass wir, d.h. die westlichen Kulturen, die Uhr, sie, d.h. die östlichen Kulturen, dagegen die Zeit hätten. Sie trafen, wie so oft, den Kern der Sache. Mit dem einzigen Zusatz, dass nicht nur Asien, sondern auch Afrika als kompletter Kontinent nicht nach dem westlichen, cartesianischen Prinzip der Messung, sondern nach dem Willen der Akteure funktioniert, analysierten sie einen der Grundwidersprüche dieser Welt und entlarvten zugleich ein Prinzip westlicher Herrschaft.
„Die absolute, wirkliche und mathematische Zeit fließt in sich und in ihrer Natur gleichförmig, ohne Beziehung zu irgend etwas außerhalb ihrer Liegenden…“ Dieser Satz Newtons begründete das westliche, nahezu göttliche Prinzip der objektiven Zeit, die ihrerseits die Menschen zu ihren Dienern machte. Wir alle kennen ihre Macht, der wir täglich unterworfen werden und gegen die wir nie gewinnen können. Das Maß der Zeit ist die Peitsche, mit der die Herrschaft der Wertschöpfung ausgeübt wird.
Asien und Afrika sind dagegen die Kontinente, die ein gänzlich anderes Verhältnis zur Zeit haben. Sie ist auch aus dortiger Sicht ein Maß. Es hat aber keine Bedeutung, solange es nicht in Beziehung steht zum freien Willen der Akteure. Wenn sie nicht wollen, ist das Verrinnen der Zeit ohne Bedeutung, weil es ein Nichts ist, dessen Messung nicht lohnt. Nur das aus dem Willen entstandene Geschehen besitzt den Wert der zu dokumentierenden Zeit, alles andere ist unerheblich. Man achte nur darauf, wie westliche Reporter z.B. über die Veranstaltung der Loya Jirga, dem traditionellen Treffen der Stammesführer in Afghanistan berichten, um einen Eindruck davon zu gewinnen, wie wenig von dem begriffen wird, was dort stattfindet. Da wird darüber lamentiert, dass es keine Agenda gibt und die Zeit nur so verstreicht. Den Prozess der Kommunikation und Verständigung selbst verstehen sie nicht.
Bei der Beurteilung von Ereignissen in den Regionen der Welt, in denen ein anderes Verhältnis zu Zeit besteht, sollten wir uns hüten, mit unseren Kategorien zu denken, und, schlimmer noch, zu urteilen. Es grenzt an eine Arroganz, die auf der anderen Seite nur Kopfschütteln auslöst, wenn wir unsere versklavende Hektik zum Maß deren machen wollen, die sich als Herrscher über die Zeit fühlen. Und es ist noch anmaßender, sich sicher zu sein, selbst im Besitz einer Wahrheit zu sein, die das Zeug zur Welterklärung mit sich bringt. Da sind dann die von einem zum Göttlichen erhobenen Prinzip Versklavten Herrscher der Welt. Das versteht außer in ihrer eigenen kein Mensch.
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