Archiv für den Monat Dezember 2011

Herrschaft und Zeit

Die wesentlichen Existenzformen von Herrschaft konzentrieren sich auf physische oder spirituelle Macht. Physische Herrschaft ist in der Regel sehr einfach auszumachen, man sieht Gewehre oder Panzer, Stacheldraht oder Gefängnisse. Ihren Charakter zu entlarven bedarf es nicht viel, zu deutlich sind ihre sinnlich wahrnehmbaren Wirkungen. Bei der immateriellen oder auch spirituellen Macht ist es weitaus schwieriger. Ihre Mechanismen wirken im Verborgenen, weniger Sichtbaren. Umso leichter fällt es den Mächtigen oder dem Prinzip, das es auch sein kann, die eigene Existenz als eine repressive zu leugnen und die Anklagenden als Überreizte oder Verrückte zu stigmatisieren.

Meine javanischen Freunde pflegten mir, wenn ich ihnen zeitlich ehrgeizige Pläne zur Durchführung von Organisationsabläufen vorlegte, die Antwort zu geben, dass wir, d.h. die westlichen Kulturen, die Uhr, sie, d.h. die östlichen Kulturen, dagegen die Zeit hätten. Sie trafen, wie so oft, den Kern der Sache. Mit dem einzigen Zusatz, dass nicht nur Asien, sondern auch Afrika als kompletter Kontinent nicht nach dem westlichen, cartesianischen Prinzip der Messung, sondern nach dem Willen der Akteure funktioniert, analysierten sie einen der Grundwidersprüche dieser Welt und entlarvten zugleich ein Prinzip westlicher Herrschaft.

„Die absolute, wirkliche und mathematische Zeit fließt in sich und in ihrer Natur gleichförmig, ohne Beziehung zu irgend etwas außerhalb ihrer Liegenden…“ Dieser Satz Newtons begründete das westliche, nahezu göttliche Prinzip der objektiven Zeit, die ihrerseits die Menschen zu ihren Dienern machte. Wir alle kennen ihre Macht, der wir täglich unterworfen werden und gegen die wir nie gewinnen können. Das Maß der Zeit ist die Peitsche, mit der die Herrschaft der Wertschöpfung ausgeübt wird.

Asien und Afrika sind dagegen die Kontinente, die ein gänzlich anderes Verhältnis zur Zeit haben. Sie ist auch aus dortiger Sicht ein Maß. Es hat aber keine Bedeutung, solange es nicht in Beziehung steht zum freien Willen der Akteure. Wenn sie nicht wollen, ist das Verrinnen der Zeit ohne Bedeutung, weil es ein Nichts ist, dessen Messung nicht lohnt. Nur das aus dem Willen entstandene Geschehen besitzt den Wert der zu dokumentierenden Zeit, alles andere ist unerheblich. Man achte nur darauf, wie westliche Reporter z.B. über die Veranstaltung der Loya Jirga, dem traditionellen Treffen der Stammesführer in Afghanistan berichten, um einen Eindruck davon zu gewinnen, wie wenig von dem begriffen wird, was dort stattfindet. Da wird darüber lamentiert, dass es keine Agenda gibt und die Zeit nur so verstreicht. Den Prozess der Kommunikation und Verständigung selbst verstehen sie nicht.

Bei der Beurteilung von Ereignissen in den Regionen der Welt, in denen ein anderes Verhältnis zu Zeit besteht, sollten wir uns hüten, mit unseren Kategorien zu denken, und, schlimmer noch, zu urteilen. Es grenzt an eine Arroganz, die auf der anderen Seite nur Kopfschütteln auslöst, wenn wir unsere versklavende Hektik zum Maß deren machen wollen, die sich als Herrscher über die Zeit fühlen. Und es ist noch anmaßender, sich sicher zu sein, selbst im Besitz einer Wahrheit zu sein, die das Zeug zur Welterklärung mit sich bringt. Da sind dann die von einem zum Göttlichen erhobenen Prinzip Versklavten Herrscher der Welt. Das versteht außer in ihrer eigenen kein Mensch.

Karthagos epochale Schichten

Moncef Marzouki, der gegenwärtige Präsident Tunesiens, residiert in dem Palast seines Vorgängers Ben Ali im Nobelvorort Karthago. Dort, wo sich die Weltgeschichte in sichtbaren Schichten übereinander gelagert hat, werden auch die Weichen des nach-revolutionären Tunesiens gestellt werden. Präsident Marzouki wäre gut beraten, wenn er seinen Palast von Zeit zu Zeit verließe und einen kleinen Spaziergang vom Hügel nach unten zu unternehmen. Dann würde ihm bewusst, wie schön und gleichzeitig vergänglich die Welt doch ist. An kaum einem anderen Ort als in Karthago wird einem dieses so deutlich gemacht. Die einzigartige Lage am Golf von Tunis, seinerseits gezeichnet von den Ausläufern des Atlas, nach Westen durch eine Lagune und nach Osten durch einen mit dem Meer verbundenen Salzsee begrenzt, verdeutlicht das strategische Denken der Phönizier, die hier siedelten und die Numiden vertrieben, um ihre maritime Herrschaft über das Mittelmeer zu festigen.

Ceterum censeo Carthaginem esse delendam, jenes, gleich einem Mantra vorgetragene Bekenntnis Catos, überzeugte die römischen Senatoren letztendlich doch und sorgte dafür, das Karthago im Jahr 146 vor Christus dem Erdboden gleichgemacht wurde. Auf seinen Ruinen entstand die von der Zivilisation des Imperiums zeugende Architektur Roms, um ihrerseits wieder von den Byzantinern zerstört zu werden, deren Wiederaufbau seinerseits von den Arabern zunichte gemacht wurde und deren Zeugnisse durch den französischen Kolonialismus überbaut wurden, der seinerseits seine Ablösung durch das post-koloniale Tunesien erfahren musste. Das alles nahm jeweils mehrere Jahrhunderte in Anspruch und ist auf dichtem Raum, manchmal auf wenigen Metern, in seiner ganzen kulturhistorischen Bedeutung zu dechiffrieren.

Der Spaziergang durch Karthago täte aber nicht nur Präsident Marzouki gut, dem aufgrund seiner Vita zuzutrauen ist, dass er das alles sehr gut weiß, und dem dann nur ein wenig Lebensfreude und Erholung von seinem schweren Amt gegönnt sein soll, sondern vielleicht käme auch denen, die aus den so genannten Metropolen dieser Welt über Tunesien berichten, der ein oder andere Gedanke über die Historizität von Ereignissen, über die Dimension epochaler Zeitläufe und die tatsächliche Halbwertzeit der Sensation. Denn eine Stätte wie Karthago beflügelt die Erkenntnis über die Nichtigkeit des einzelnen Individuums im weltgeschichtlichen Ablauf und die Vergänglichkeit selbst der größten Imperien. Ein Spaziergang durch das heutige Karthago ist eine Referenz an die Notwendigkeit des historischen Bewusstseins.

Die aus den Wahlen hervorgegangene Regierung hat den Auftrag, innerhalb eines Jahres eine Verfassung zu erarbeiten, auf deren Grundlage die ersten freien, gleichen und geheimen Wahlen durchgeführt werden sollen. Und es ist zu vermuten, dass die verschiedenen größeren sozialen und politischen Gruppen des Landes sich nach einer Regierungsperiode werden ablösen wollen, um das Regierungshandwerk zu üben. Das wird mal islamisch-gemäßigt und ländlich und mal links und proletarisch-städtisch sein, und dann, nach zehn bis fünfzehn Jahren, wird eine Prognose erlaubt sein, wohin sich das Land bewegt. Und das alles wird unter der Regie der Tunesier stattfinden, die gut beraten sind, sich auf keine schnellen Lösungen zu kaprizieren, sich auf kein Instrumentarium aus der Aservatenkammer der westlichen Regierungslehre zu stürzen, sondern sich der Notwendigkeit zu verpflichten, die Erfahrungen selbst machen zu müssen. Im Moment spricht vieles dafür, dass sie so weise sind, diesen Weg gehen zu wollen.

Arabische Totenschiffe und italienische Fischbäuche

Der neu gewählte tunesische Präsident, von Beruf Arzt und politisch eher der Linken zuzurechnen, ist mit der Botschaft an die Öffentlichkeit gegangen, dass die jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürger willkommen sind und das Land nicht verlassen sollen. 1967, bei Ausbruch des Sechs-Tage-Krieges zwischen Israel und Ägypten, lebten 100.000 Jüdinnen und Juden in Tunesien, heute, nach weiteren vierzig Jahren des israelisch-palästinensischen Konfliktes, sind es noch 5.000. Diese leben zumeist als Geschäftsleute auf der Touristeninsel Djerba. Das Signal des ehemaligen Widerstandskämpfers und heutigen Präsidenten ist deutlich. Das neue Tunesien soll ein tolerantes sein.

Die Positionierung des Landes als attraktivem Wirtschaftsstandort wird eine große Herausforderung sein. Die vorhandenen Arbeitskräfte gelten gemeinhin als gut ausgebildet und sehr zuverlässig. Zukunftspläne hinsichtlich des Exports von Sonnenenergie liegen bereits in den internationalen Anwaltskanzleien und europäische Investoren scheinen nicht abgeneigt zu sein. Allerdings können diese Pläne nur funktionieren, wenn die europäischen Energiekartelle an ihren Mega-Infrastrukturen festhalten. Sollten sich verbrauchsabhängige und verbrauchsgeschneiderte Verbundsysteme in den Industrienationen durchsetzen, würde aus den großen Plänen nichts.

Dienstleistungen, in denen die gut ausgebildeten Jungen – 3 der insgesamt 10 Millionen Tunesier sind unter 18 Jahre alt – eine Perspektive fänden, sind nicht in Sicht. Bei ihnen wird der Patriotismus entscheidend sein. Mit ihren Voraussetzungen, die auf einer basalen akademischen Ausbildung und nahezu flächendeckender Mehrsprachigkeit beruhen, hätten sie auf den europäischen Arbeitsmärkten große Chancen. Die qualifizierte Workforce ist allerdings nicht die, die auf geheuerten Totenschiffen immer wieder auf der nur fünfzig Kilometer vor der tunesischen Küste liegenden sizilianischen Insel Lampedusa strandet. Dort handelt es sich zumeist um die weniger Gebildeten, dafür aber Risiko Bereiteren. Die Qualifizierten benötigen im eigenen Land dagegen Bescheidenheit und Geduld, keine juvenilen Attribute.

Monsieur Mahdi, einer der letzten großen Virtuosen der arabischen Rasur, seinerseits bekennender Muslim, erkundigt sich, wo Weihnachten gefeiert werden soll. Er empfiehlt Da Franco, ein italienisches Restaurant. Dort äße man hervorragend und die Weihnachtsmenüs seien legendär. Der sei ein bißchen verrückt, dieser Italiano, der stopfe Truthähne mit Gänseleber und fülle die Bäuche der Meeresfische so prall mit Kräutern, dass sie zu platzen drohten und seine Weine hätten das Aroma der heiligen Dreifaltigkeit. Da drängt sich, quasi als Randnotiz, die Frage auf, warum es immer die katholischen Italiener sind, die an jedem auch noch so entlegenen Flecken auf dieser Welt – wozu Tunesien selbstverständlich nicht zählt – die europäische Sinnlichkeit bedienen. Und die andere Frage, die ganz in den Kontext passt, gehört zu dem Motiv des bekennenden Muslim Mahdi. Ist es die pure Menschlichkeit, oder vielleicht doch die zumeist schlummernde, und manchmal geheime Solidarität der Monotheisten untereinander?

Unter diesem Aspekt ist die Frage der Konkordanz verschiedener, religionsbasierter Kulturen noch nicht beleuchtet worden. Im Nahen Osten war lange Zeit der Libanon ein gerne vorgezeigtes Beispiel für die Möglichkeit einträchtiger Koexistenz von Muslimen, Christen und Juden, den drei monotheistischen Religionen. Sie scheiterte allerdings in erster Linie an dem Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern und der Instrumentalisierung verschiedener religiöser Gruppen durch benachbarte Staaten wie Syrien und Iran. Und das konkordante Gebilde im Libanon selbst, das bestimmte Strukturen der Staatsverwaltung und der Regierung einzelnen Religionsgruppen reservierte, war von der Idee her zu statisch und zu wenig vom Geist der Toleranz geprägt. Bei 95 Prozent Muslimen stellt sich die Frage einer Konkordanzdemokratie für Tunesien allerdings nicht.