Es scheint zu den großen Mythen unserer Zeit zu gehören. Überall, bis hin zur persönlichen Ausformulierung von Essenswünschen im Restaurant, wird vom Zeitalter der Individualisierung gesprochen. In den Ketten, die nach Franchiseprinzipien arbeiten, artet die Bestellung eines Gerichts mittlerweile in ein regelrechtes Biointerview aus. Welche Art der Zubereitung hier, welches Dressing dort, welche Temperierung des Getränkes hier und ohne welche Allergien auslösende Stoffe dort. Doch nicht nur in der Gastronomie, überall wird damit geworben, ganz individuell auf den Kunden einzugehen.
Auch die Entwicklung der Städte deutet seit langer Zeit darauf hin, dass die Zeiten der Mikro-Sozialverbände längst passé sind und das Individuum in Form von Single-Arrangements angesiedelt werden muss. Bis in die politischen Parteien hinein wird mit der Programmatik der Individualisierung gearbeitet und jede Verwaltung, deren hohes zivilisatorisches Gut doch die Verallgemeinerung ist, wird dem Vorwurf ausgesetzt, nicht individuell auf die Wünsche der Bürger einzugehen.
Der Schein trügt. Denn hinter den nahezu ätzenden Avancen der Propaganda verbirgt sich ein gigantisches Unternehmen der Manipulation. Hinter den aggressiv vermarkteten Chiffren der Individualität nämlich verbirgt sich ein wohl registriertes und verwaltetes Sortiment der Stereotypie. Bis hin zu den Social Media, die ihrerseits mit der möglichen Vermarktung der ermittelten Kundenprofile bis in die Börsen eindringen, wird mit sehr präzisen Charakterisierungen gearbeitet, die ihrerseits Massenstatus haben. Und sieht man sich die Profilkolonnen an, so fällt eines auf: Mit Individualität haben sie recht wenig zu tun.
Jede Epoche hat ihre Herrschaftsmythen. Im vor-industriellen Zeitalter gab es noch die göttliche Ordnung, der industrielle Kapitalismus wurde geboren aus dem handelnden Subjekt und mündete in die Kohärenz der sozialen Klassen und der Post-Industrialismus, der sich zunehmend von der materiellen Wertschöpfung hin zu einer ideellen entwickelt, kokettiert mit der neuerlichen Entdeckung des Individuums. Letzteres entlarvt sich jedoch zunehmend als Herrschaftsideologie, da es dabei lediglich um Manipulationsgrößen geht, die Lichtjahre von dem handelnden Subjekt der Aufklärung entfernt sind.
Wie immer ist es interessant, sich die Sollbruchstellen einer gesetzten theoretischen wie praktischen Annahme zu widmen. Wie, so müssen wir uns fragen, geht die Gesellschaft und ihre Öffentlichkeit um mit der tatsächlichen Quittierung des medialen Konsenses, wenn sich ein Individuum für tatsächliche Individualität in Erscheinung, Ansicht und praktischem Handeln entscheidet? Wie geht diese Gesellschaft um mit solchen Individuen, die abweichen von den normierten Profilen und es wagen, der Strömung die Stirn zu bieten? Die Antwort auf diese Fragen ist nicht nur evident, sondern sie regt dazu an, sich mit den modernen Formen der Inquisition zu beschäftigen. Die wie eine Monstranz kommunizierte Individualisierung ist nichts anderes als das Abhandenkommen einer Verpflichtung auf die Gemeinschaft. Mit Individualität hat dies jedoch nichts zu tun.
Du muss angemeldet sein, um einen Kommentar zu veröffentlichen.