Archiv für den Monat Mai 2012

Individualisierung ohne Individualität

Es scheint zu den großen Mythen unserer Zeit zu gehören. Überall, bis hin zur persönlichen Ausformulierung von Essenswünschen im Restaurant, wird vom Zeitalter der Individualisierung gesprochen. In den Ketten, die nach Franchiseprinzipien arbeiten, artet die Bestellung eines Gerichts mittlerweile in ein regelrechtes Biointerview aus. Welche Art der Zubereitung hier, welches Dressing dort, welche Temperierung des Getränkes hier und ohne welche Allergien auslösende Stoffe dort. Doch nicht nur in der Gastronomie, überall wird damit geworben, ganz individuell auf den Kunden einzugehen.

Auch die Entwicklung der Städte deutet seit langer Zeit darauf hin, dass die Zeiten der Mikro-Sozialverbände längst passé sind und das Individuum in Form von Single-Arrangements angesiedelt werden muss. Bis in die politischen Parteien hinein wird mit der Programmatik der Individualisierung gearbeitet und jede Verwaltung, deren hohes zivilisatorisches Gut doch die Verallgemeinerung ist, wird dem Vorwurf ausgesetzt, nicht individuell auf die Wünsche der Bürger einzugehen.

Der Schein trügt. Denn hinter den nahezu ätzenden Avancen der Propaganda verbirgt sich ein gigantisches Unternehmen der Manipulation. Hinter den aggressiv vermarkteten Chiffren der Individualität nämlich verbirgt sich ein wohl registriertes und verwaltetes Sortiment der Stereotypie. Bis hin zu den Social Media, die ihrerseits mit der möglichen Vermarktung der ermittelten Kundenprofile bis in die Börsen eindringen, wird mit sehr präzisen Charakterisierungen gearbeitet, die ihrerseits Massenstatus haben. Und sieht man sich die Profilkolonnen an, so fällt eines auf: Mit Individualität haben sie recht wenig zu tun.

Jede Epoche hat ihre Herrschaftsmythen. Im vor-industriellen Zeitalter gab es noch die göttliche Ordnung, der industrielle Kapitalismus wurde geboren aus dem handelnden Subjekt und mündete in die Kohärenz der sozialen Klassen und der Post-Industrialismus, der sich zunehmend von der materiellen Wertschöpfung hin zu einer ideellen entwickelt, kokettiert mit der neuerlichen Entdeckung des Individuums. Letzteres entlarvt sich jedoch zunehmend als Herrschaftsideologie, da es dabei lediglich um Manipulationsgrößen geht, die Lichtjahre von dem handelnden Subjekt der Aufklärung entfernt sind.

Wie immer ist es interessant, sich die Sollbruchstellen einer gesetzten theoretischen wie praktischen Annahme zu widmen. Wie, so müssen wir uns fragen, geht die Gesellschaft und ihre Öffentlichkeit um mit der tatsächlichen Quittierung des medialen Konsenses, wenn sich ein Individuum für tatsächliche Individualität in Erscheinung, Ansicht und praktischem Handeln entscheidet? Wie geht diese Gesellschaft um mit solchen Individuen, die abweichen von den normierten Profilen und es wagen, der Strömung die Stirn zu bieten? Die Antwort auf diese Fragen ist nicht nur evident, sondern sie regt dazu an, sich mit den modernen Formen der Inquisition zu beschäftigen. Die wie eine Monstranz kommunizierte Individualisierung ist nichts anderes als das Abhandenkommen einer Verpflichtung auf die Gemeinschaft. Mit Individualität hat dies jedoch nichts zu tun.

Identitätsfindung im Ensemble

Marcus Miller, Renaissance

Marcus Miller gehört zu den Ausnahmemusikern einer Generation, die in den letzten zwei Jahrzehnten mit viel Furore auf sich aufmerksam machten. Zu ihnen gehören sicherlich Charaktere wie Branford Marsalis und die etwas jüngeren Joshua Redman, James Carter, Christian McBride oder Roy Hargrove. Marcus Miller jedoch war der, welcher mit dem Miles Davis Album Tutu, das im wesentlichen von Miller arrangiert worden war, schlagartig die uneingeschränkte Aufmerksamkeit erlangte. Obwohl er selbst ein vielseitiger Musiker ist und neben dem Bass noch andere Instrumente, und vor allem exzellent Klarinette zu spielen in der Lage ist, schrieb man ihn in das Buch der Ausnahmebassisten ein. Letzteres hinderte Miller nicht daran, eine grandiose Solokarriere zu starten und CDs wie Tales und Silver Rain herauszubringen, die in ihrer Intensität weit über den Zeitgeist hinausgehen.

Doch nach Silver Rain (2005) wurde es relativ still um Marcus Miller. Ab und zu erschienen Mitschnitte von Live-Konzerten, aber man wurde den Eindruck nicht los, dass Miller, der zwischenzeitlich die Fünfzig überschritten hat, in einer Krise steckte. Letztendlich schien er den Preis bezahlen zu müssen, den alle zu entrichten haben, die allzu früh im grellen Rampenlicht stehen und dann nur mit großen Mühen und gegen quälende Widerstände von der Momentaufnahme abstand nehmen können, auf die sie reduziert werden.

Marcus Miller hat, so wie es scheint, den Kampf gewonnen und sich von dem exponierten Solisten zu einem genialen Jazzbassisten entwickelt, dem das Genre und dessen Aussage wichtiger ist als die eigene Strahlkraft. Mit dem Album Renaissance kehrt Marcus Miller zurück mit einer Band junger, viel versprechender und sehr virtuoser Musiker, die nicht den großen Bassisten unterstützen, sondern die von einem der genialsten Bassisten unserer Tage ihrerseits getrieben werden. Vor allem Alex Han am Altsaxophon, Sean Jones an der Trompete und Adam Rogers an der Gitarre setzen Akzente, die melodiöse Stimmigkeit und tonale Expressivität zum Ausdruck bringen. Zusammen mit dem Schlagzeuger Louis Cato peitscht der in diesem Ensemble als Senior zu bezeichnende Marcus Miller am Bass eine regelrechte Musikforce zu künstlerisch hoher Qualität.

Gleich, ob in den Eigenkompositionen, von denen vor allem Detroit, Redemption, Jekyll & Hyde und Revelation zu überzeugen wissen, oder in den Cover-Versionen, Mr. Clean, Tightrope oder I´ll Be There, die Band überzeugt durch Tempo wie Ausdruck und der Rhythmus hat eine Qualität, die ihresgleichen sucht. Mit Ausnahme des Titels Setembro (Brazilian Wedding Song), der ein wenig wie ein unnötiger Beweis der zweifelsfrei vorhandenen Vielseitigkeit daherkommt, scheint Marcus Miller seine Wiedergeburt erlebt zu haben. Sie ist abgeleitet aus der Überzeugung, dass die monothematische Virtuosität des Solisten in die Sackgasse geführt hat. Im Ensemble hat er zu sich selbst gefunden! Das mutet nahezu weise an!

Mediale Herrschaft, emotionale Radikalisierung

Momentan werden Erklärungen gesucht für eine emotionale Radikalisierung, von der immer mehr Gruppen der Gesellschaft erfasst werden. Letzteres ist ohne Zweifel festzustellen, ersteres in der Regel substanziell etwas dürftig. Vielleicht hülfe es, sich die Frage zu stellen, mit welchen Massenphänomenen wir konfrontiert werden, die uns zuweilen verzweifeln lassen. Und da sticht zweifelsfrei eine Erscheinung ins Auge, die Individuen unterschiedlichster Herkunft, unterschiedlichster sozialer Provenienz und unterschiedlichsten Bildungsgrades dazu treibt, sich radikalisieren und alle Dämme brechen zu lassen. Das geht vom Fußballfan bis zum Wutbürger und ist insofern kein Problem des Fußballs, sondern ein Problem der Gesellschaft insgesamt.

Wir beobachten täglich, dass die medialen Bilder, die uns erreichen, zumeist nicht mehr mit den Worten korrespondieren, die diese Bilder erklären oder kommentieren sollen. Das mediale Erklärungsszenario entspricht in den wenigsten Fällen der sinnlichen Wahrnehmung, die wir bei der Aufnahme der Bilder verspüren oder der sozialen Erfahrung, mit der wir sie rezipieren. Stattdessen erzählen uns so genannte Kommentatoren oder Moderatoren etwas gänzlich anderes. Und natürlich sind es Herrschaftsgeschichten, die uns da mitgeteilt werden, die ganz harmlos anfangen als eine andere Wahrnehmung, die aber zumeist enden als Unterdrückung anderer Meinungen und Gruppen. Wer sich dem Trug nicht beugt, der wird beschimpft und ausgegrenzt und letztendlich der psychologisch arbeitenden Inquisition zum Fraße vorgeworfen.

Wir hatten Stuttgart 21, und da hat man wegen der Bildung und oft bürgerlichen guten Situierung derer, die da auf die Straße gingen, nach einem ersten Impuls der Härte die taktische Hinhaltung versucht. Da wurde dann gespalten und alles unternommen, um eine politische Agenda durchzusetzen, die nicht mehr vermittelbar war. Nun, im Falle von Fußballfans, wird der Knüppel herausgeholt, obwohl auch in diesem Falle ein emotionaler Protest gegen Bilder vorliegt, die gar nicht mehr zu den Kommentaren passen. Bei Gegnern von Stuttgart 21, die ebenso Gewalt anwendeten, wäre niemand auf die Idee gekommen, von Idioten zu sprechen, denen man heimleuchten müsse. Das scheint der Unterschied zu sein zwischen Bildungsbürgertum, das nicht in den Plan passt und Proletariern, die sowieso niemand mehr haben will, weil die Produktion von materiellen Werten tatsächlich etwas für Idioten geworden ist, wo es doch weitaus geistreicher erscheint, mit Optionen zu spekulieren.

Wir haben es also mit dem, was momentan in den medialen Übungsstätten für Herrschaftsideologie, sprich den Talk-Shows, mühsam austariert wird, einerseits mit dem Resultat der unverblümten Indoktrinierung von bewegten Bildern zu tun und andererseits mit einer klassengesteuerten Differenzierung zwischen einzelnen Bevölkerungsgruppen. Bei der einen wird ganz klassisch der Knüppel herausgeholt, bei der anderen kommen demagogische Dompteure á la Geisler zum Zuge, die wiederum Legenden spinnen, denen niemand bei längerem Nachdenken glauben schenken sollte.