Archiv für den Monat September 2012

Diskrepanzen in Germanistan

Es ist noch lange hin bis zu den Wahlen in Germanistan. Und schon gewinnt der öffentliche Diskurs an Hektik. Nicht, weil es um eine harte Auseinandersetzung ginge, um Strategien und Programme. Nein, die Ungewissheit ist es, die die große Mehrheit umtreibt und beunruhigt. Noch bevor über die politische Ausrichtung der verschiedenen politischen Konkurrenten gesprochen und geschrieben wurde, gab es eine viel wichtigere Frage: Wer wird künftig mit wem und in welcher Konstellation regieren. Das klingt vielleicht spanisch, ist aber urdeutsch. Die Wahrscheinlichkeit bestimmter Stimmenanteile vorausgesetzt, wird über Regierungskoalitionen spekuliert, als wäre alles andere nicht von Belang. Es ist so, als wäre eine politische Klasse kurz davor, an ihrer Arroganz zu ersticken. Wäre da nicht ein Volk, das dieses degoutante Spiel mitmachte und ohne Gegenwehr die politischen Fragen ausblendete.

In Europa spielt die Bundesrepublik Deutschland mit über achtzig Millionen Einwohnern, einer einzigartigen Produktivität und einer global kaum erreichten Exportquote eine dominante Rolle. Seit der Weltfinanzkrise und der strukturellen Baisse einiger Euro-Mitgliedstaaten erscheint die Kanzlerin vielen gar als die Krisenmanagerin par excellence. In Bezug auf die Vergangenheit von Faschismus und real existierendem Sozialismus und der damit verbundenen Affinität zu obrigkeitsstaatlicher Organisation und Psyche ist die Rolle vielen Europäern zu dominant. Deutschland hat eine bewegte Geschichte, auch in der jüngeren Vergangenheit und nicht nur Europa, sondern die ganze Welt fragt sich, wohin steuert diese Wirtschaftsmacht politisch.

Sieht man sich die Diskussionen innerhalb unseres Landes an, ganz ohne die Frage der Wahlen, dann fällt eine Diskrepanz auf, die beunruhigen muss. Während Nationalökonomien schlingern, während Staaten im Nahen Osten Wanken, während Energiefragen den Globus beschäftigen und Europa und die Welt darauf aus sind, deutsche Positionen kennen zu lernen, diskutiert man im Landesinneren exklusiv Fragen nach Betreuungsplätzen, Erziehungszeiten für Großeltern und die Liberalisierung von Autokennzeichen. Und während seit Jahrzehnten deutlich ist, dass dieses Land sich seine eigene Produktivitätsgrundlage durch ein desolates Bildungssystem verhunzt, werden Reförmchen eingeleitet und wieder rückgängig gemacht, je nach Landesregierung und dem Gout partikularistischer Provinzschranzen. Und während im pazifischen Raum eine nahezu intergalaktische Offensive in Sachen Infrastruktur gefahren wird, leisten wir uns Genehmigungszeiten, die historisch ihresgleichen suchen.

Das alles müsste niemanden beunruhigen, wenn Deutschland international das wäre, was es aus der eigenen Befindlichkeit heraus ist: eine provinzielle mittlere Größe ohne Belang für die Außenwelt. Problematisch, ja brandgefährlich wird der Provinzialismus dann, wenn er die Chance einer großen, internationalen Bühne bekommt. Dann kann das, was formuliert wird, zu großer Irritation und Verunsicherung führen. Wer glaubt schon einem Riesen, dass er leidenschaftlich am Interieur von Puppenstuben bastelt?

Das gegenwärtige Einpendeln auf einen politischen Konsens ohne politischen Inhalt, die Perspektive auf eine große Koalition, ist neben allen internationalen Irritationen zudem geeignet, den merkelschen Zentralismus, den sie in Europa mit der Bildung einer Sowjetunion Light, was die Rolle der europäischen Institutionen angeht, weiter auch innenpolitisch zu kultivieren. Fast bekommt man heute schon den Eindruck, neben Merkel als Person habe man nur noch mit Blockparteien zu tun, die sich wesentlich in nichts mehr unterscheiden. Und vergeblich sucht man nach Akteuren, die nicht gewillt sind, sich dieser mediokren Vereinheitlichung des politischen Willens in den Weg zu stellen. Die politische Bedeutung Germanistans ist zu groß, als dass es sich diese Art des Provinzialismus leisten könnte.

Neapolitano, Americano

Sie kommen von überall her. Aus den USA. Aus Boston, New York, Philadelphia, Washington oder Miami. Sie sind gemachte Männer. Bauunternehmer, Gewerkschaftsbosse, Anwälte oder Gastronomen. Ihre Väter und Mütter, oder noch eine, zwei oder drei Generationen früher waren als arme Neapolitaner in das Land der Verheißung ausgewandert. Und für die, die hierher zurückkehren, ist die Illusion Wirklichkeit geworden. Die Gescheiterten kehren nie zurück, nur die Erfolgreichen. Und die kommen, mit ihren Frauen, und zumeist Kindern, die heute erwachsen sind, um ihnen und den Zuhausegebliebenen zugleich zu zeigen, wie schön die Heimat ist, von der ihnen die große Erzählung berichtete, und wie weit sie selbst es gebracht haben.

Sie steigen ab in den guten Hotels, an der Amalifiküste, in Sorrent, am Golf von Neapel oder auf Capri. Es sind Residenzen, klassisch, im Stile alter italienischer Mondänität. Dort halten sie Hof, und wechseln in ihren lautstark geführten Konversationen mehrmals im Satz die Sprache. Stolz packen sie einige Sätze aus, wie sie sonst nur die Neapolitaner artikulieren, im leichten Zisch- und Schlurfton, ein bißchen heiser und hell. Und dann donnern Sequenzen in die Suada, aus dem rauchigen Boston, dem stürmischen New York oder dem heiß-feuchten Miami.

Die Kellnerinnen, die sie bedienen, sind schnell gefangen von dem Charme, den Erfolg und Macht zu verströmen in der Lage ist. Sie freuen sich wie kleine Kinder über ein dahin gemaunztes Good Job dieser fetten amerikanischen Katzen. Sie schieben üppige, ölige Trinkgelder mit ihren besiegelten Fingern über den Tisch und tätscheln den Schönen gönnerhaft die Wangen. Diese lassen das alles geschehen, vielleicht, weil sie auch den Traum der Ferne träumen, vielleicht auch nur, weil sie gut rechnen können und der Preis für soviel Großzügigkeit gering ist.

Die Neapolitaner selbst, Bewohner einer 1,5 Millionenmetropole am Fuße des Vesuvs, bedürfen keiner Bestätigung von außen, um eine weltläufige Selbstsicherheit auszustrahlen. Sie wirken durch sich selbst. Wohl wissend, dass hier vieles zusammenläuft, was an Informellem der transatlantischen Beziehungen Bestand hat. Hier, wo die vulkanische Katastrophe jederzeit aus einer prosperierenden Agglomeration in malerischem Ambiente ein Inferno machen kann, ist das Risiko eine Tagesroutine. Die Alpha-Tiere neapolitanischer Art gehen stets aufs Ganze, egal, wie die Nachwelt darüber denken mag. Dabei strahlen sie eine Ruhe aus, die nur als solche vor dem Feuerball begriffen werden kann.

Sie halten sich zurück, wenn die Americanos, wie man sie hier nennt und wie sie in Ray Gelatos gleichnamigem Lied so treffend beschrieben werden, Whiskey Soda Rock´n Roll, wenn diese Americanos hier so auftreten, als wäre es ihr Land. Und das ist die Lehre, mit der diejenigen, die so nichts ahnend hierher zurück kommen, dort drüben groß geworden sind. Das Warten und Kalkulieren, das Konturieren des Vorteils, die formal zivilisierte Art und der tödliche Stoß, ausgeführt mit kalter Hand, zum treffenden Moment. Zeige keine Regung, wenn deine Ehre verletzt wird, behalte dein eigenes Interesse im Auge und trete dann in Aktion, wenn niemand damit rechnet. Da schimmern mehr als zweitausend Jahre Erfahrung hindurch, das reicht weit zurück bis ins Alte Rom.

Während die blondierten Frauen der Americanos mit ihren IPhones in der Hand den ersten Martini schlürfen, leger und freizügig, overseas chatten, und zwar so laut, dass es alle hören, werden auch sie bedient von jungen Frauen, züchtig gekleidet, mit Schürze und gestärkter Bluse. Und sie kredenzen den nächsten Drink, freundlich, ergeben, mit einem Blick aus Eis und Feuer.

Es ist ein Bündnis, das älter und erfolgreicher nicht sein könnte. Stärker als formale Akte und Verträge. Unmäßig cool und effektiv. Da kooperiert eine kulturelle Weltmacht, mit einem inszenierten, amerikanischen Klischee auf der Bühne, und unscheinbar in der Cafeteria sitzenden Schachspielern, in dunklem Zwirn und getönter Brille. Eine perfekte Symbiose. Ein erfolgreiches Team.

Randvolle Zorndepots, laues Appeasement

Die Diskussion um die Verunglimpfung des Propheten Mohammed wir auch heute, nach den Freitagsgebeten, neuen Zündstoff bekommen. Dort, in den Moscheen der islamischen Welt werden die Imame die Spottfilme und Karikaturen aus dem Westen anprangern und als Beleidigung des Islam auf das Schärfste tadeln. In ihrer Aussage werden sie Recht haben, denn stellt man sich vor, wie die Persiflage eines Heiligtums auf einen Gläubigen wirkt, dann wird deutlich, wie weh das tun kann.

In der westlichen Welt, die nach einem schwarzen Mittelalter mit einer unglaublichen Inquisition so langsam, im Laufe von 200 Jahren in die Helligkeit der Aufklärung vordrang, ist, zumindest unterbewusst, bekannt, wie sich die Unantastbarkeit eines Gottes auf das Wohlbefinden des gemeinen Volkes auswirken kann: in der Regel grausam und ungerecht. Deshalb haben die mit der Aufklärung einhergehenden politischen Kämpfe die Rechte der Meinungs- und Pressefreiheit erwirkt. Letztere sind das Herzstück der Demokratie.

In der islamischen Welt fand in den letzten zwei Jahren etwas statt, das im Westen so gerne Arabellion genannt wurde. Dabei handelte es sich um Revolten gegen autokratische Herrscher, die grausam und korrupt waren und denen es nicht daran lag, das Volk an Wohlstand und Rechten zu beteiligen. Ihre Herrschaft wurde gesichert durch großzügige Zuwendungen aus dem Westen, bestehend aus Geld und Waffen, um die Gefahren der Unkalkulierbarkeit zu vermeiden. Als einige dieser Völker ihre Tyrannen vom Hof jagten, hatte der Westen bereits ein Problem. Und einigen Staaten, wie z.B. der Bundesrepublik, gelang es kaum, die Zeichen der Zeit zu erkennen.

Die neuen Regierungen in Ländern wie Ägypten und Tunesien übernahmen nicht nur ein schweres Erbe, denn die sozialen Widersprüche waren groß, die Infrastruktur schlecht und die Verwaltungen korrupt, nein, sie hatten und haben ein großes Problem im Aufbau und Entwickeln einer Wirtschaft, von der die Menschen vernünftig leben können. Die kurze, aber heftige nach-tyrannische Zeit hat den neuen Regierungen deutlich gemacht, wie schwer der Weg aus der Rückständigkeit sein wird.

In einem solchen Moment ist es nicht verwunderlich, dass gefühlte wie tatsächliche Provokationen von außen dazu führen, das gesamte Frustrationspotenzial abzurufen und ein klassisches Aktionsmuster zu aktivieren. Die bereits gezeigte und die sich ausbreitende Gewalt gegen diplomatische Institutionen des Westens zeigen Wirkung. Nicht nur, dass man auch in Deutschland mächtig erschrickt bei einer Erfahrung, die für die USA zur Normalität gehören, sondern man ist auch sofort auf dem Rückzug, was die eigene Position betrifft. Man könnte sagen, dass die demokratischen Argumentationsmuster wie ein Kartenhaus zusammenfallen. Man distanziert sich vom Anlass der Provokation und damit von Presse- und Meinungsfreiheit und rät zur Mäßigung.

Suchte man nach einem Indiz für die Schwäche des Westens im positiven Sinne, dann hätte man es deutlicher nicht finden können. Es ist sogar die Rede davon, Gesetze zu verabschieden, die die Beleidigung religiöser Gefühle unter Strafe stellen. Das ist, mit Verlaub, eine lausige Form des Appeasement und es zeigt, wie sehr der Aufklärungsgedanke zu einer formalen Rhetorik verkommen ist. Zum Respekt gegenüber anderen, vor allem der islamischen Welt, gehört eine eigene Kontur, auf die man verweist. Will der Westen nicht demonstrieren, dass er einzuschüchtern ist, so müsste er offensiv argumentieren, warum er es nicht hinnehmen kann, dass das Recht von Individuen nicht identisch ist mit der offiziellen Regierungsmeinung. Und dass deutlich wird, wie schwer man sich tut, das selbst verursachte Elend zu beseitigen. Und dass es gar nicht geht, die eigene Frustration und den daraus entstehenden Zorn auf Phänomene eines zivilisierten Rechts zu projizieren. Nur wer gegen den Konflikt ist, ihn aber nicht fürchtet, hat eine berechtigte Erwartung auf den Respekt der Gegenseite.