Archiv für den Monat November 2012

Kognitive Dekadenz

Mit dem Begriff der kognitiven Dissonanz werden Sachverhalte beschrieben, die aus einem Spannungsverhältnis unterschiedlicher Ursachen und Wirkungsweisen erzeugt werden. Das wohl bekannteste Beispiel ist die Fabel Äsops vom Fuchs und den Trauben. Der Fuchs, wild auf die über ihm wachsenden Trauben, erfüllt von der Vorstellung des zu erwartenden Genusses, verändert seine Einstellung zu den Trauben, als er feststellt, dass er sie nicht erreichen kann und ihm insofern der Konsum verwehrt bleiben wird. Diese Erkenntnis hat zur Folge, dass der Fuchs beginnt, Trauben an sich vor seinem inneren Auge als eine saure Angelegenheit zu beschreiben, deren Verzehr alles andere als erstrebenswert ist. Die Beugung der Bewertung eines Ziels bei dessen wahrscheinlicher Nicht-Erreichung ist ein treffendes Beispiel quasi der ersten Stunde für kognitive Dissonanz.

Was in Äsops Beispiel als eine Möglichkeit individuellen Verhaltens dargestellt wird, kann gesamtgesellschaftliche Dimensionen annehmen. Ganze Völker beugen zuweilen die Realität, um die eigenen Defizite vor sich selbst zu kaschieren. Die Deutschen haben zwei signifikante Beispiele für kollektive kognitive Dissonanz geliefert. Das eine ist der Mythos vom Land der Dichter und Denker, welches eine Redewendung der Briten und Franzosen war, um die deutsche Unfähigkeit zum Nationalstaat zu dokumentieren. In Deutschland selbst wertete man das Defizit um in ein positives Phänomen. Ähnlich war es mit dem Signet des Made in Germany. Was in der Wahrnehmung der Deutschen exklusiv als Gütesiegel rezensiert wurde, entstammt einer knallharten Stigmatisierung: Die britischen Eisenbahnbauer, die bis dahin den Weltmarkt dominierten, hatten es durchgesetzt, dass die ersten deutschen Züge mit diesem Zusatz als minderwertig gekennzeichnet wurden.

Kognitiv Dissonanz kann sich kollektiv noch steigern, und zwar zu einem Topos, der als kognitive Dekadenz bezeichnet werden muss, wenn ein Ergebnis oder eine Tatsache, die nicht dem Erwartungshorizont des Kollektivs entspricht, umgedeutet wird, um den kognitive Apparat an sich zu diskreditieren. Dabei werden die Prämissen des Weltverständnisses derartig manipuliert, dass sie keine wahrhaftige Perzeption des Geschehens mehr zulassen.

Unsere Gesellschaft wird gegenwärtig Zeugin eines derartigen Prozesses der fortschreitenden Wirkung kognitiver Dekadenz. In dem zum Beispiel geleugnet wird, dass das menschliche wie das gesellschaftliche Sein und Verhalten zu Fehlern, Tragik und Leid führen kann, weil das schon immer so war und es zum argen Weg der Erkenntnis des homo sapiens gehört. In der Umdeutung des Individuums in eine fehlerlose und folglich göttliche Maschine, der keine menschliche Unzulänglichkeit anhaftet. In dem es sich durch regulierende Intervention vermeiden lässt, dass etwas in Schaden oder Ruin führt.

Wir alle kennen die Halbwertzeiten, die wirken, wenn dann doch etwas passiert. Morgens ein Amoklauf, ein Verkehrsunfall oder ein Brand und schon abends der gesellschaftliche Konsens über die Notwendigkeit eines verschärften Waffengesetzes, drastischere Formen der Verkehrsregelung oder die gesetzliche Ausdehnung des Brandschutzes. Es ist immer das gleiche Spiel: Weil das illusionäre, obskurantistische, unaufgeklärte Menschenbild es nicht zulässt, dass Menschen Fehler machen, dass es Gründe für das Scheitern gibt, werden sie en gros in einem fortschreitenden Prozess entmündigt.

Kognitive Dekadenz ist die Beugung vermeintlich möglicher Gestaltungsräume durch einen restriktiven staatlichen Interventionismus. Sie hat ihre Wurzeln in der instrumentellen Vernunft, die den Menschen zu einer Sache degradiert. Und sie hat es geschafft zum Massenphänomen!

Dramaturgie einer traurigen, strahlenden Erscheinung

Amy Winehouse at the BBC

Manchmal sind es eher Randnotizen, die an Bedeutung gewinnen, wenn das Schicksal so grausam spielt wie im Falle von Amy Winehouse. Ihr großer Durchbruch und einzigartiger Erfolg mit dem Album Back To Black wäre einer von vielen Meilensteinen gewesen, hätte ihr Leben nicht diese verhängnisvolle Wendung genommen. So, nach ihrem frühen Tod, war es natürlich folgerichtig, dass in den Archiven hektisch gekramt wurde, um noch Aufnahmen zu finden, die sich verramschen ließen. Nun, viel später als die ersten Versuche dieser Art, erschien eine CD und eine DVD mit dem schnörkellosen Titel Amy Winehouse At The BBC. Und das britische Medienhaus bewies einmal wieder, dass es trotz aktueller Skandale auch einfach nur für Qualität steht.

Die auf der CD vorgestellten Titel wurden allesamt live zu unterschiedlichen Anlässen zwischen 2004 und 2009 aufgenommen. Begleitet wurde die Sängerin zumeist neben der Stammbesetzung von einer Big Band (im Gegensatz zu ihrem großen Erfolg mit Sharon Jones Bläsersatz, den Brooklyner Dap Kings). Die Aufnahmen bestechen durch große Qualität und Varianz. Unter den 14 Titeln befinden sich einige, die so nicht bekannt waren und die zeigen, wie dynamisch und schräg Amy Winehouse zum einen an Klassiker heranging, wie zum Beispiel Lullaby of Birdland, und wie wenig glattgebügelt sie zu Werke ging, wenn sie nicht von den Agenturen unter Druck gesetzt wurde, Fuck Me Pumps ist ein brillantes Beispiel dafür.

Die DVD zeigt eine andere, introvertierte, besinnliche und melancholische Seite. Amy Winehouse fuhr mit einem Gitarristen und einem Bassmann ins irische Dingle zu einem kleinen, aber feinen Festival, wo sie in aller Bescheidenheit vor einem Publikum von 100 bis 150 Menschen in spärlicher, nahezu akustischer Version ihre eigene, verwegene und dennoch sentimentale Lyrik ausbreitete. Es sind ungeheuer beeindruckende Aufnahmen, die alle noch so professionellen Nebengeräusche ausblenden und die spirituelle Tiefe und Verletzlichkeit dieser ungeheuer begabten Ausnahmekünstlerin dokumentieren. Die dort insgesamt sechs eingespielten Stücke werden jeweils gerahmt von einem Interview am Rande des Festivals, in dem Winehouse sehr entspannt und offen über ihre Einflüsse und Motive spricht. So ist kein Wunder, dass neben den bekannten Einflüssen aus Rock, Blues und Hip Hop Namen wie Mahalia Jackson, Aretha Franklin und Sarah Vaughan eine wichtige Rolle spielen. Das, was Amy Winehouse auch von denen unterscheidet, denen sie mit ihren mutigen Auftritten den Weg bahnte, der Holismus von von Gospel & Soul und dem Verschrecken und Verstören, das Provokante mit der melancholischen Seite, das, was Amy Winehouses Alleinstellungsmerkmal bleiben wird, kommt in diesem Interview zum Ausdruck.

Interview wie die Aufnahmen in der frugalen Besetzung sowie die CD, die den rauschenden Pomp einer sich etablierenden Diva zelebriert, bringen die vom Teufel inszenierte Ambivalenz der Sängerin zum Klingen. In vielerlei Hinsicht ist das reichhaltiger und aussagekräftiger als das Album Back to Black. Insofern gibt es keinen Grund, sich diesen Exkurs in die Dramaturgie einer traurigen, aber strahlenden Erscheinung vorzuenthalten.

Gedrosseltes Tempo, wachsende Komplexität der Charaktere

Martin Scorsese. Boardwalk Empire, zweite Staffel

Die erste Staffel von Boardwalk Empire setzte einen Rahmen, der durch Überschriften wie Prohibition, Politik und organisiertes Verbrechen und Prostitution deutlich gezeichnet war. Auch die Handlung wies alles auf, was einen klassischen Mafia-Thriller ausmacht: Tempo, Gewalt, aufeinander folgende Plots und erschütternde Wendungen. Bei der zweiten Staffel erhält dieses Konzept nicht direkt eine Absage, aber das Metier erfährt beträchtliche Änderungen in der Ausfüllung der Charaktere wie in der Inszenierung der Dramaturgie, was einige Zuschauer enttäuschen mag, aber bei genauerer Betrachtung auch vieles in sich birgt, was für eine außerordentliche Qualität spricht.

Die zweite Staffel beginnt mit der Erosion der in der ersten vorgestellten Machtsphären. Mit der Belichtung, die immer mehr ins Halbdunkle und Schummrige abdriftet, geht auch die Strahlkraft des Imperiums von Nucky Thompson verloren, dessen Position angezweifelt und von interessierter Seite attackiert wird. Neue Beziehungen und Konstellationen werden geknüpft, die alle unter der Zielrichtung zustande kommen, das Imperium des Kämmerers von Atlantic City zu übernehmen. Dieses alles geschieht vor dem tatsächlichen historischen Hintergrund der Prohibition in den USA der Zwanziger Jahre. Es ist die Zeit zwischen den beiden Weltkriegen, in denen die aufkommende Weltmacht zwischen Vergnügungssucht und Bigotterie taumelt, in der ein Ku-Klux-Klan zunehmend aggressiv gegen die schwarze Bevölkerung vorgeht und ein weißer Boxer namens Jack Dempsey als die Great White Hope in die Geschichte des Rassismus eingehen sollte. Es ist die Zeit, in der bestimmte Migrationsethnien ihre Claims in den USA abstecken: die Iren unterwandern die Polizei, die Italiener die Gewerkschaften und den Bau, die Polen dominieren die Fleischindustrie, die Juden entdecken das Brokergewerbe und wie weißen Angelsachsen reklamieren die politischen Ämter für sich.

Die Hauptfiguren der Serie spiegeln diese Gruppen wieder. Das Erzähltempo wird langsam, zuweilen sehr langsam. Das, was zunächst als ein Angebot an aufkommende Langeweile erscheint, schlägt allerdings um in eine epische Tiefe, die eine enorme Komplexität offenbart. Nucky Thompson, der zivilisierte Kriminelle mit den feinen Umgangsformen und der angenehmen Erscheinung, entpuppt sich doch noch als höllisches Monster, Jimmie Darmody, der plötzliche Rivale, der in der ersten Staffel als Soldat und Killer erschien, offenbart tiefes menschliches Leid und die Fähigkeit zu aufrichtiger Liebe und Margaret Schröder, die Gebildete, Feinfühlige, entpuppt sich als bigotte, skrupellose Bestie mit hoher Verletzlichkeit. Das Arrangement wimmelt von atemberaubend interessanten Charakteren, Eli Thompson und van Alden, Lucy Danziger und Chalkie White, Al Capone und Lucky Luciano, die Reihe ließe sich nahezu unbegrenzt fortsetzen, nichts ist holzschnittartig vereinfacht, alles verstört und befremdet durch seine Komplexität. Die einzelnen Episoden lassen sich nicht in raschem Tempo nacheinander anschauen, sie müssen sich setzen, bevor man bereit ist, sich auf die nächste charakterologische Studie einlassen zu können.

Vor dem historischen Hintergrund, der noch gewinnt durch Erklärungen von Verbindungen, die nahezu 100 Jahre andauerten wie die Liaison von irischer US-Küstenwache und dem Zoll sowie der IRA, bekommen die filmisch verlangsamten Charakterstudien eine Tiefe, die sehr dazu beiträgt, das historische Prozedere zu verstehen. Die Protagonisten erhalten eine Dimension, die sie weit über das Genre klassischer Unterhaltungsfilme hinausgehen lassen.

Stellt sich nur noch die Frage, was nach dem historischen Setting der ersten Staffel und der facettenreichen Darreichung der Charaktere in der zweiten als dramaturgische Konsequenz in der dritten Staffel geschehen wird. Allein diese Frage beantwortet, wie gelungen das Bisherige war.