Mit dem Begriff der kognitiven Dissonanz werden Sachverhalte beschrieben, die aus einem Spannungsverhältnis unterschiedlicher Ursachen und Wirkungsweisen erzeugt werden. Das wohl bekannteste Beispiel ist die Fabel Äsops vom Fuchs und den Trauben. Der Fuchs, wild auf die über ihm wachsenden Trauben, erfüllt von der Vorstellung des zu erwartenden Genusses, verändert seine Einstellung zu den Trauben, als er feststellt, dass er sie nicht erreichen kann und ihm insofern der Konsum verwehrt bleiben wird. Diese Erkenntnis hat zur Folge, dass der Fuchs beginnt, Trauben an sich vor seinem inneren Auge als eine saure Angelegenheit zu beschreiben, deren Verzehr alles andere als erstrebenswert ist. Die Beugung der Bewertung eines Ziels bei dessen wahrscheinlicher Nicht-Erreichung ist ein treffendes Beispiel quasi der ersten Stunde für kognitive Dissonanz.
Was in Äsops Beispiel als eine Möglichkeit individuellen Verhaltens dargestellt wird, kann gesamtgesellschaftliche Dimensionen annehmen. Ganze Völker beugen zuweilen die Realität, um die eigenen Defizite vor sich selbst zu kaschieren. Die Deutschen haben zwei signifikante Beispiele für kollektive kognitive Dissonanz geliefert. Das eine ist der Mythos vom Land der Dichter und Denker, welches eine Redewendung der Briten und Franzosen war, um die deutsche Unfähigkeit zum Nationalstaat zu dokumentieren. In Deutschland selbst wertete man das Defizit um in ein positives Phänomen. Ähnlich war es mit dem Signet des Made in Germany. Was in der Wahrnehmung der Deutschen exklusiv als Gütesiegel rezensiert wurde, entstammt einer knallharten Stigmatisierung: Die britischen Eisenbahnbauer, die bis dahin den Weltmarkt dominierten, hatten es durchgesetzt, dass die ersten deutschen Züge mit diesem Zusatz als minderwertig gekennzeichnet wurden.
Kognitiv Dissonanz kann sich kollektiv noch steigern, und zwar zu einem Topos, der als kognitive Dekadenz bezeichnet werden muss, wenn ein Ergebnis oder eine Tatsache, die nicht dem Erwartungshorizont des Kollektivs entspricht, umgedeutet wird, um den kognitive Apparat an sich zu diskreditieren. Dabei werden die Prämissen des Weltverständnisses derartig manipuliert, dass sie keine wahrhaftige Perzeption des Geschehens mehr zulassen.
Unsere Gesellschaft wird gegenwärtig Zeugin eines derartigen Prozesses der fortschreitenden Wirkung kognitiver Dekadenz. In dem zum Beispiel geleugnet wird, dass das menschliche wie das gesellschaftliche Sein und Verhalten zu Fehlern, Tragik und Leid führen kann, weil das schon immer so war und es zum argen Weg der Erkenntnis des homo sapiens gehört. In der Umdeutung des Individuums in eine fehlerlose und folglich göttliche Maschine, der keine menschliche Unzulänglichkeit anhaftet. In dem es sich durch regulierende Intervention vermeiden lässt, dass etwas in Schaden oder Ruin führt.
Wir alle kennen die Halbwertzeiten, die wirken, wenn dann doch etwas passiert. Morgens ein Amoklauf, ein Verkehrsunfall oder ein Brand und schon abends der gesellschaftliche Konsens über die Notwendigkeit eines verschärften Waffengesetzes, drastischere Formen der Verkehrsregelung oder die gesetzliche Ausdehnung des Brandschutzes. Es ist immer das gleiche Spiel: Weil das illusionäre, obskurantistische, unaufgeklärte Menschenbild es nicht zulässt, dass Menschen Fehler machen, dass es Gründe für das Scheitern gibt, werden sie en gros in einem fortschreitenden Prozess entmündigt.
Kognitive Dekadenz ist die Beugung vermeintlich möglicher Gestaltungsräume durch einen restriktiven staatlichen Interventionismus. Sie hat ihre Wurzeln in der instrumentellen Vernunft, die den Menschen zu einer Sache degradiert. Und sie hat es geschafft zum Massenphänomen!
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