Archiv für den Monat Dezember 2012

Revolte gegen die Lebensangst

Nein, von Revolution muss nicht gleich die Rede sein. Vielleicht hilft es mehr, sich Gedanken über verhängnisvolle Ketten zu machen. Zum Beispiel die, von der Kant in seiner Abhandlung über die Aufklärung spricht. Nämlich dass die Unmündigkeit des Menschen selbst verschuldet ist. Allein diese Feststellung wäre heute schon eine Unverschämtheit. Denn Eigenverantwortung ist eliminiert. Zu lange schon wirken die Mechanismen der Entmündigung, ganz ohne Inquisition, Krieg oder Faschismus. Die Postmoderne ist zu einer Wüste geworden, in der Individualisierung in Bezug auf Befriedung zwar groß geschrieben wird, in der das selbstbewusste Individuum jedoch kaum noch auszumachen ist. Und wenn, dann wird es zur Jagd frei gegeben. Viele Gründe sind aufzuzählen für die Erosion. Das aufgeklärte, unbequeme, resistente und renitente Subjekt hat nahezu aufgehört zu existieren, und dennoch scheint es kaum jemanden zu schmerzen. Wer im Konsensstrom schwimmt, der darf partizipieren an der oberflächlichen Zuneigung aller zu allem.

Die produktive Wertschöpfung verschiebt sich zunehmend in andere Zonen der Welt und in den ehemaligen Zentralen des Industrialismus spricht man von Dienstleistung und der Kreativität von Branchen. Die Arbeitsbedingungen für diejenigen, für die es noch Arbeit gibt, sind die des akademischen Proletariats, vor dem im frühen 20. Jahrhundert bereits gewarnt wurde. Die kreative Klasse ist auch die Retrospektive auf den Manchester-Kapitalismus, ohne Rechte, mit wenig Geld, und der Garantie auf hohe Quoten der Selbstausbeutung. Auch das geschieht aufgrund der Individualisierung aus der Perspektive der Befriedung, auch hier gibt es nicht den Willen von Subjekten, Koalitionen zu suchen, die das Elend ins Visier nehmen.

Viele Epochen der Herrschaft lebten davon, Wissen und Information von den Beherrschten fern zu halten, um sie in ihrer Unmündigkeit festzuschreiben. Heute, in der Verdichtungsphase der psychosozialen Diktatur, überschwemmt man den Mob mit Information, um ihm die Möglichkeit der Orientierung zu nehmen. Nur wem es noch gegeben ist, zu strukturieren, zu selektieren und auszublenden, hat noch eine Ahnung davon, wohin die Reise gehen mag. Das Bunte, das polyphone Grundrauschen überblendet und übertönt die graue Tristesse des wahren Seins. Hinter der schillernden Oberfläche lauert eine monströse Monotonie, wie sie schlimmer nie war.

Jedes Soufflieren der Profiteure der medialen und verregelten Herrschaft, ein Missstand schreie nach Gesetz und Institution, ist ein weiterer, todbringender Tropfen auf dem Weg zur totalen Entmündigung. Die Halbwertzeiten zwischen dem Regelfall existenzieller Unwägbarkeit und dem aggressiven Einfordern der Verstaatlichung und Institutionalisierung gleichen mittlerweile den Wirkungszeiten von Abhängigen, die an der Nadel hängen. Folglich ist auszurechnen, wann unser Gemeinwesen die tödliche Dosis erreicht. Gut, das zu sehen, und derzeit die einzige Hoffnung.

In einem weit voraussehenden Essay, der sich mit einer Erscheinung des Mittelalters befasste und der unter dem Titel Die Albingenser und die Revolte gegen die Lebensangst erschien, beschrieb Franz Jung das wohl grundlegende Problem des Menschen, im Mittelalter wie in der Moderne. Es handelt sich um die durch Angst verschuldete Unmündigkeit, die Dominanz des Objektes über das Subjekt. Und wer glaubt, die Lebensangst sei in der Postmoderne geringer als in den düsteren Zeiten des Obskurantismus, unterliegt dem größten Irrtum des XXI. Jahrhunderts. Und nur wer gegen die Lebensangst revoltiert, hat eine Chance, das eigene Leben zu gestalten.

Wie ein schottischer Moralphilosoph das vor-revolutionäre Frankreich erlebte

Reinhard Blomert. Adam Smiths Reise nach Frankreich oder die Entstehung der Nationalökonomie

Nichts ist rühmlicher, große Theorien, die ihrerseits Einfluss auf gesellschaftliche, politische und wirtschaftliche Entwicklung genommen haben, den Armen einer populistischen Verfälschung zu entreißen. Das wäre und ist in vielen Fällen hilfreich, täte immer wieder bei Nietzsche gut, hülfe das eine oder andere Mal bei Darwin und ist sicherlich mehr als angebracht bei Adam Smith. Dessen Wohlstand der Nationen ist dermaßen den Reißwölfen des verballhornenden Mainstream zum Opfer gefallen, dass einem der Mann nach mehr als zweihundert Jahren Grabesaufenthalt noch heute Leid tun kann. Die Reduzierung seiner ökonomischen Theorie auf die „unsichtbare Hand“, die wie von Wunder den Markt regele, wird seiner Theorie einfach nicht gerecht und ist ein törichtes, aber wirkungsvolles Machwerk wirtschaftsliberalistischer Ideologen.

Der Autor Reinhard Blomert, seinerseits Redakteur des Leviathan – Berliner Zeitschrift für Sozialwissenschaft, hat in der Reihe Die Andere Bibliothek des Eichborn Verlages, der seinerseits dafür steht, jenseits des Mainstream Perspektiven zu entwickeln, die Licht ins Dunkel bringen, eine Schrift mit dem Titel Adam Smiths Reise nach Frankreich oder die Entstehung der Nationalökonomie verfasst. Sein Ziel war es, Transparenz herzustellen über die Entstehung des Werkes Der Wohlstand der Nationen, mit dem der schottische Moralphilosoph weltberühmt wurde und den Einfluss des vor-revolutionären Frankreich auf seine Gedanken zu dokumentieren.

Die Leserinnen und Leser erfahren folglich einiges aus dem Leben des Adam Smith vor seiner Reise und sie erhalten ausführliche Beschreibungen und Porträts aus besagtem Frankreich der Jahre 1764-1766, dem Zeitraum, in dem sich Adam Smith als fürsorglicher Lehrer eines schottischen Adeligen in Frankreich aufhielt. Man bekommt einen wirtschaftlich aufschlussreichen Vergleich der Hafenstädte Toulouse und Bordeaux, ein großartiges Bild von Voltaire, eine Einführung in die Pariser Salons einflussreicher Damen bis hin zur Pompadour und eine elaborierte Skizze zu dem Arzt und Ökonomisten Francois Quesnay, dessen Überlegungen Smith am stärksten bei seinen Ausführungen in seinem Hauptwerk beeinflusst haben. Und es wird deutlich, dass Smith als Moralphilosoph in Frankreich ankam, d.h. er immer auch einen Ethos der wirtschaftlich Handelnden einforderte, woran die Reise nichts geändert hat.

Die Extrakte, die sich auf dessen Wirtschaftstheorie auswirkten, sind allerdings spärlich und lassen nur die Vermutung aufkommen, worin sich Smith von späteren Vertretern des freien Marktes unterschied: Eben nämlich durch sein Postulat an die Wohlhabenden, sich auch am Wohle der Allgemeinheit orientieren zu müssen. Doch neben der wirtschaftspolitischen Auffassung, dass eine Liberalisierung des Getreidehandels und eine Forcierung der Arbeitsteilung zum Wohlstand einer Nation beitrage ist dieser Appell zwar in der Rezeptionsgeschichte über Adam Smith wichtig, aber er bringt keine Erkenntnisse über die Relevanz seiner Theorie gegenüber heutigen Versionen des ungezügelten Wirtschaftsliberalismus. Die Ehrenrettung Adam Smith´gelingt, weil deutlich wird, wie sehr er für eine liberale Wirtschaftsordnung plädierte, aber den Trieb des Egoismus jenseits der gesellschaftliche Ratio kannte und daher immer auch für maßvolle Maßnahmen staatlicher Lenkung plädierte, sei es durch Zölle, durch Steuern oder durch Konsum.

Die große Stärke des Buches ist das gezeichnete Sittenbild des vor-revolutionären Frankreichs. Der Einfluss auf Smith kann nur, wie im Text allerdings auch expressis verbis bestätigt wird, vermutet werden und die Relevanz der wirtschaftspolitischen Positionen, die in den Salons diskutiert wurden, kommen zu kurz. Dem Zusatz im Titel, die Entstehung der Nationalökonomie, hätte eine andere, stärkere Gewichtung der wirtschaftspolitischen Aspekte entsprochen.

Das Vermächtnis des Kastenjakl

In seinem Roman Das Leben meiner Mutter, der die historische Dimension der deutschen Geschichte des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts in einer epischen und analytischen Qualität erfasst wie kaum ein anderer, spielt die Figur des Kastenjakls die Rolle des Sonderlings, die nur zu erklären ist aus seiner Familiengeschichte, die sich erstreckt auf hunderte von Jahren der Verfolgung und Unterdrückung. Angesichts der sich in diesen Tagen häufenden Wünsche für Frieden und Besinnung, der Ressentiments gegenüber anderen Religionen und der Vergessenheit über die eigene, scheinen die Sätze des Kastenjakl für einen wohlwollenden Kontrapunkt zu sorgen:

„Unseren Urgroßvater mit Namen Peter, verheirateter Handwerksmann mit vier Kindern, und seinen Bruder Andreas, ledig, haben sie selbigerzeit gefasst im Haus im Untersulzbachischen. Einfach herausgerissen sind sie worden aus der Werkstatt und nackt ausgezogen. Dem einen wie dem anderen ist alsdann die rechte Hand abgehackt worden und ins Gesicht geschmissen. Sie sollten nie mehr ein Kreuz machen und nichts mehr ehrenhaft arbeiten können. Alsdann haben die Schergen jedwedem hinten und vorn einen dicken Bündel Stroh auf die Haut gebunden und angezunden. Geschrien haben die Firmianischen: So, und jetzt Marsch mit euch! Lauft dem Teufel entgegen! Der freut sich schon! Weib und Kinder machen wir schon katholisch, wenn ihr in der Höll seid! Und wie keiner hat laufen wollen und sich gewunden hat, haben die Schinder gestochen, bis jeder Reißaus genommen hat. Sie sind geloffen mit der siedenden Haut, wer weiß wohin…

Ein giftiger Stachel ist in einem jeden geblieben, der dieses Foltern, Schinden und Ausrauben ewige Zeiten durchgemacht hat und noch nachspürt, als wär´s ihm selber leibhaftig geschehen. Hat keiner mehr glauben können an so ein Nebelding, das wo sich heißt Gott, der Herr der Heerscharen, und allfort ruhig zugeschaut hat und den ganzen niederträchtigen Jammer hat geschehen lassen! Wir haben nichts vergessen und sind zu guter Letzt in die Verstellung und in alle schleicherische List geschloffen, auf dass uns keiner mehr hat kennen können, wer wir sind. Wir haben spielen müssen frommgläubige Katholiken, sind Lutherische und Reformierte gewesen, wie man´s verlangt hat, und haben gewechselt das Glaubensgesicht wie ein Hemmerd, wo man, weil Flöh´drinnen sind, ablegt. Wir haben geschwindelt und gelogen und gedienert und gefeilscht, weil´s immer um ein Haar ums Leben gegangen ist, aber wir haben zum Ende ganz wirklich den Krimskrams von einem Herrgott und einer Seligkeit ad acta gelegt. War immer zu schlechten Nutzen für einen jeden von uns, aber vergessen haben wir nichts, und einmal soll´s einer vielhundertmal vergelten, weil sie uns so ausgebrannt haben inwendig.

Schau ich´s an, wie ich will, dann kommt es mir vor, als wär der Maxl schon der Rechte. Er wird weiter kommen als ich, und zu hoffen ist, dass er irgendein stockiges, katholisches Weibsbild mit Geld hinters Licht führt und einfangt, das ihm Kinder bringt. Macht´s er nicht ganz, so wird´s eines der Kinder zu End´bringen. Nichts wär schöner! Gewiss ist, dass wir in unserer allerersten Vorderzeit engelsgut gewesen sind und gewaltmäßig zu Teufeln gemacht worden sind. Sie sollen´s also spüren, was ein Teufel ist…“

Oskar Maria Graf. Das Leben meiner Mutter, Frankfurt am Main 1982, S. 282ff.