Nein, von Revolution muss nicht gleich die Rede sein. Vielleicht hilft es mehr, sich Gedanken über verhängnisvolle Ketten zu machen. Zum Beispiel die, von der Kant in seiner Abhandlung über die Aufklärung spricht. Nämlich dass die Unmündigkeit des Menschen selbst verschuldet ist. Allein diese Feststellung wäre heute schon eine Unverschämtheit. Denn Eigenverantwortung ist eliminiert. Zu lange schon wirken die Mechanismen der Entmündigung, ganz ohne Inquisition, Krieg oder Faschismus. Die Postmoderne ist zu einer Wüste geworden, in der Individualisierung in Bezug auf Befriedung zwar groß geschrieben wird, in der das selbstbewusste Individuum jedoch kaum noch auszumachen ist. Und wenn, dann wird es zur Jagd frei gegeben. Viele Gründe sind aufzuzählen für die Erosion. Das aufgeklärte, unbequeme, resistente und renitente Subjekt hat nahezu aufgehört zu existieren, und dennoch scheint es kaum jemanden zu schmerzen. Wer im Konsensstrom schwimmt, der darf partizipieren an der oberflächlichen Zuneigung aller zu allem.
Die produktive Wertschöpfung verschiebt sich zunehmend in andere Zonen der Welt und in den ehemaligen Zentralen des Industrialismus spricht man von Dienstleistung und der Kreativität von Branchen. Die Arbeitsbedingungen für diejenigen, für die es noch Arbeit gibt, sind die des akademischen Proletariats, vor dem im frühen 20. Jahrhundert bereits gewarnt wurde. Die kreative Klasse ist auch die Retrospektive auf den Manchester-Kapitalismus, ohne Rechte, mit wenig Geld, und der Garantie auf hohe Quoten der Selbstausbeutung. Auch das geschieht aufgrund der Individualisierung aus der Perspektive der Befriedung, auch hier gibt es nicht den Willen von Subjekten, Koalitionen zu suchen, die das Elend ins Visier nehmen.
Viele Epochen der Herrschaft lebten davon, Wissen und Information von den Beherrschten fern zu halten, um sie in ihrer Unmündigkeit festzuschreiben. Heute, in der Verdichtungsphase der psychosozialen Diktatur, überschwemmt man den Mob mit Information, um ihm die Möglichkeit der Orientierung zu nehmen. Nur wem es noch gegeben ist, zu strukturieren, zu selektieren und auszublenden, hat noch eine Ahnung davon, wohin die Reise gehen mag. Das Bunte, das polyphone Grundrauschen überblendet und übertönt die graue Tristesse des wahren Seins. Hinter der schillernden Oberfläche lauert eine monströse Monotonie, wie sie schlimmer nie war.
Jedes Soufflieren der Profiteure der medialen und verregelten Herrschaft, ein Missstand schreie nach Gesetz und Institution, ist ein weiterer, todbringender Tropfen auf dem Weg zur totalen Entmündigung. Die Halbwertzeiten zwischen dem Regelfall existenzieller Unwägbarkeit und dem aggressiven Einfordern der Verstaatlichung und Institutionalisierung gleichen mittlerweile den Wirkungszeiten von Abhängigen, die an der Nadel hängen. Folglich ist auszurechnen, wann unser Gemeinwesen die tödliche Dosis erreicht. Gut, das zu sehen, und derzeit die einzige Hoffnung.
In einem weit voraussehenden Essay, der sich mit einer Erscheinung des Mittelalters befasste und der unter dem Titel Die Albingenser und die Revolte gegen die Lebensangst erschien, beschrieb Franz Jung das wohl grundlegende Problem des Menschen, im Mittelalter wie in der Moderne. Es handelt sich um die durch Angst verschuldete Unmündigkeit, die Dominanz des Objektes über das Subjekt. Und wer glaubt, die Lebensangst sei in der Postmoderne geringer als in den düsteren Zeiten des Obskurantismus, unterliegt dem größten Irrtum des XXI. Jahrhunderts. Und nur wer gegen die Lebensangst revoltiert, hat eine Chance, das eigene Leben zu gestalten.
Du muss angemeldet sein, um einen Kommentar zu veröffentlichen.