Mit dem Untergang der Sowjetunion vor über 20 Jahren glaubten viele, dass damit ein seit der russischen Revolution herausgebildetes Phänomen ebenfalls den Geschichtsbüchern angehört. Es handelt sich um den Apparatschik. Damit gemeint sind Personen, die eine Funktion in Partei- und/oder Parteiapparat innehaben und deren Bezugsfeld nichts anderes ist als das erwähnte. Alle Beziehungen sind exklusiv eine Referenz an den Apparat. Von ihrer Berufsbiographie erklärte sich diese monothematische soziale Zugehörigkeit aus der Exklusivität. Zumeist handelte es sich um Personen, die nie etwas anderes gemacht hatten als Politik. Besonders aus dem Westen kam immer wieder das damals sicherlich noch zutreffende Argument, dass im Gegensatz zum Apparatschik in den westlichen Demokratien Politiker und politische Funktionäre in der Regel einen bürgerlichen Beruf hatten, aus dem heraus sie sich für eine politische Laufbahn entschlossen hatten. Ihr Vorteil war, dass sie dadurch einen Einblick in das zivile Leben wie in die Funktionsweise von wirtschaftlichen Leistungsorganisationen gewinnen konnten. Zum Wesen von Apparatschiks dagegen gehörte, dass sie ausschließlich mit der Loyalität gegenüber dem politischen Referenzsystem brillieren konnten. Außerhalb desselben hatten sie nichts zu bieten. Sie verdankten dem System ihre Stellung und waren dadurch auf Gedeih und Verderb erpressbar.
Das politische System des Westens hat nach dem Niedergang der Sowjetunion verschiedene Analogien produziert, die beunruhigend sein müssen. Eine schwerwiegende ist die Verselbständigung der Bürokratie, die durch eine monströse Verregelung dokumentiert, dass sie den Bürgerinnen und Bürgern kein gesellschaftlich vernünftiges Verhalten mehr zutrauen. Diese Tendenz verifiziert sich bei jeder Problemstellung, die eine neue Regel nach sich zieht. Über diese Regeln und ihre Einhaltung wachen zunehmend Menschen, die außer der Bürokratie, in der sie sozialisiert wurden, über keine zivile Sozialisation mehr verfügen.
Betrachtet man die politischen Karrieren vieler heutiger Politikerinnen und Politiker, so stellt man fest, dass der Eintritt in Parteiapparate und politische Ämter zumeist vor der Möglichkeit stattfinden, eine Berufsausbildung abzuschließen oder Berufserfahrung zu sammeln. Die Karrieren, die sich daraus entwickeln, definieren sich ebenfalls aus der Exklusivität des jeweiligen einzigen Bezugssystems. Auch sie sind ausschließlich angewiesen auf ein Referenzsystem, das das Verdienst in Loyalität und nicht, wie z.B. in Wirtschaftsorganisationen, in Leistung misst.
Die Folge ist eine Art Wiedergeburt des Apparatschiks. Das große Staunen, das sich zunehmend in der Bevölkerung breit macht über die Denk- und Handlungsweise dieses Typus lässt sich aufschlüsseln, wenn deutlich wird, dass die Bezugssysteme im politischen System selbst gesucht werden. Letzteres kapselt sich zunehmend ab von den Lebensbedingungen der Zivilgesellschaft und den Wirtschaftsbetrieben. Der Erfolg von Politik und dem politischen System wird aus Sicht des politischen Systems kaum noch gemessen an der gesellschaftlichen Relevanz und Wirkung, sondern aus Gesichtspunkten des Machterhalts und der Verbesserung der eigenen Struktur. Letztere birgt den Hang zur Expansion, d.h. ist das politische System aus eigener Betrachtung erfolgreich, so dehnt es sich aus, sprich so vergrößert sich die Bürokratie.
Abgesehen von der wachsenden Verdrossenheit innerhalb der Bevölkerung, die auch einmal umschlagen kann in Zorn, nagt zunehmend ein Widerspruch an der inneren Konsistenz des Systems selbst. Funktions- und Handlungsweisen der neuen Apparatschiks sind zunehmend abgekoppelt von den politischen Programmen, mit denen durch Wahlen immer noch die Zugänge zum System erworben werden. Das löst tendenziell die Kohärenz des Systems von innen auf. Doch vorher wird die allgemeine Handlungsunfähigkeit offensichtlich. Währenddessen erfreut sich der Apparatschik an seiner wiedergewonnenen Existenzform in der digitalen Moderne.
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