Archiv für den Monat Februar 2013

Die Wahlen in Italien und deutsche Reaktionen

Wäre es nicht so grotesk, so könnte die kalte Wut aufsteigen. Das, was sich im politisch immer monolithischer werdenden Germanistan angesichts der Wahlen in Italien abspielt, ist ein unter Aspekten eines dadaistischen Aktes genialer Mix der Entgleisung. Von Mitgliedern des Bundeskabinetts bis hin zu Zeitungsredakteuren in der Provinz wird böse geschimpft über das unverantwortliche Wahlverhalten der Italiener und die drohende Unregierbarkeit des Landes. Was allgemein untergeht bei dem Sturm der Entrüstung ist die Tatsache, dass die Wählerinnen und Wähler in Italien weit entfernt sind von der Einstimmung auf Blockparteien und dass sie gegenüber einem immer dreister auftretenden Zentralismus der EU ihr eigenes Recht auf Autonomie immer noch hoch einschätzen. Was in den kalten Zonen Europas seit Menschengedenken den Italienern als Schwäche vorgeworfen wird, ist der permanente Zustand der Unregierbarkeit. Dabei existiert kein anderes Land in Europa, das bei derartig häufig wechselnden Regierungsmehrheiten so stabil geführt wurde wie Italien.

Was ist geschehen? Nach einem eher der Wählerkorruption zugewandten und relativ konzeptionslos agierenden Berlusconi kämpfte sich Italien in den letzten 24 Monaten hin zu der Regierung Monti, die sehr drastisch den Sparvorgaben der EU folgte, ohne die Dimension der möglichen sozialen Verheerungen dabei im Auge zu haben. Monti galt in den Foren der EU als rationaler und seriöser Sanierer, der Staatskassen, aber nicht des demokratischen Gemeinwesens. Nun, bei den Parlamentswahlen, hat sich eine eindeutige Mehrheit für das Mitte-Links-Bündnis von Pier Luigi Bersani entschieden. Das damit verbundene Signal ist eindeutig: Wer bei der Konsolidierung der Staatsfinanzen das soziale Gefüge in Bedrängnis bringt, bekommt die Rote Karte. Wären da nicht die Wahlen zum Senat, also der Zweiten Kammer, ihrerseits ähnlich dem Bundesrat mit der Macht der Verhinderung von Gesetzesvorlagen. Dort hat das Mitte-Links-Bündnis lediglich ein gutes Drittel der Stimmen und muss Koalitionen suchen, um Gesetzesvorhaben realisieren zu können. Das ist, um es unmissverständlich zu sagen, ein eindeutiges Setting seitens der Wählerinnen und Wähler nach dem Muster des Check & Balances und es zeugt von einer guten Kenntnis demokratischer Gepflogenheiten.

Was hingegen besorgen muss, sind die hiesigen Positionen, die sich hinter der Italienschelte verbergen. Zum einen wird unterstellt, dass es vernünftig ist, sich Diktaten aus Brüssel kritiklos zu stellen, zum anderen wird ein Volk getadelt, das andere Optionen im Auge hat, als den europäischen Zentralismus. Beides ist verheerend für das Demokratieverständnis hierzulande. Denn bei den hier im Herbst bevorstehenden Wahlen gibt es längst keine Alternative mehr zu einem Votum für die weitere europäische Zentralisierung und Bürokratisierung. Die beiden Volksparteien CDU und SPD haben sich längst auf die weitere Zentralisierung der Macht in Brüssel festgelegt, und Koalitionspartner wie FDP und Grüne stehen nur noch für Nuancierungen. Die FDP für legale Fluchtwege aus dem Netz des Zentralismus, die Grünen für eine Beschleunigung der Bürokratie. Und selbst diese Differenzierung wird voraussichtlich keine Rolle spielen, weil der Wunsch nach einer großen Koalition immer mehr wächst.

So wäre es angebracht, sich nicht über italienische, sondern zum Beispiel über deutsche Verhältnisse zu ereifern und sich die Frage zu stellen, wieso nach der Geschichte – so wie sie verlief – hier noch eine solche Sehnsucht nach Einheitsparteien herrscht. Dagegen macht Italien doch seit 2000 Jahren einen sensationell guten Job!

Konturen der Dekadenz

Zukunftspotenziale von Gesellschaften zu identifizieren ist eine Herausforderung. Neben so genannten objektiven Fakten, wie z.B. die demographischen Tendenzen, das Vorhandensein natürlicher und artifizieller Ressourcen, der Stand der physischen und elektronischen Infrastruktur, das Bildungsniveau, die Gesundheit, der Zivilisationsgrad und die mit allem verbundene Prognostik existiert noch eine andere Seite der Medaille. Dort stehen Dinge, die gerne als weiche Faktoren beschrieben werden. Darunter versteht man zum Beispiel die Kollektivsymbolik, die Qualität der sozialen Beziehungen, das Vorhandensein von Zielen, die in die Zukunft weisen, ein Konsens über das nationale Selbstverständnis, verknüpft mit mehrheitlich getragenen Identifikationsmustern und vor allem ein Bewusstsein für die Notwendigkeit von Rahmenbedingungen für die Gestaltung der Zukunft.

Betrachtet man unsere Republik unter diesen Gesichtspunkten, dann stechen bestimmte Dinge direkt ins Auge. Demographisch dominiert die geriatrische Tendenz, die Verfügbarkeit natürlicher Ressourcen hält sich in engen Grenzen, die artifiziellen Ressourcen, Wissen und Know-how, sind durch Investitionsdefizite im Hochschulbereich sehr gefährdet. Die physische Infrastruktur, vom Schienennetz bis zu den Straßen, von Bahnhöfen bis zu Radnetzen, sind in einem zunehmend desolaten Zustand und die elektronische Infrastruktur ist im Vergleich zu vielen angelsächsischen Ländern, den asiatischen Tigerstaaten, dem Baltikum oder Spanien auf einem Stand, der dort mindestens zehn Jahre zurückliegt. Das Bildungsniveau ist von den durch die OECD ermittelten PISA-Werten der ersten Runde nicht merklich besser geworden und die akademischen Eliten gehören mangels Möglichkeiten im eigenen Land prozentual zur größten Emigrantengruppe. Um den allgemeinen Gesundheitszustand ist es ebenso nicht gut bestellt, auffallend da ist der Trend von mehrheitlich physiologischen hin zu psychosomatischen Erkrankungen. Letztendlich ist der Zivilisationsgrad, der einmal erreicht war, erheblich gefährdet durch soziale Entpflichtungstendenzen der sozialen Eliten.

Bei der Betrachtung der weichen Faktoren fallen verschiedene Dinge gleichfalls relativ schnell auf. Die Kollektivsymbolik ist nach den großen Wellen der digitalen Kommunikation einer Vorstellungswelt gewichen, die dominiert wird von Bildern aus der Blütezeit einer Landwirtschaft und Forstwirtschaft des 19. Jahrhunderts mit Attributen wie nachhaltig, biologisch und erneuerbar, während die großen politischen Bezugsfelder abgedeckt werden aus dem Reservoir der politischen Korrektheit. Die Qualität der sozialen Beziehungen kann gekennzeichnet werden durch eine erneute Beschleunigung der Individualisierung und markante Entsolidarisierungstendenzen.

Ziele, die in die Zukunft weisen sind eher rar, ein Konsens kommt eigentlich nur zustande in Fragen der Verständigung darüber, was man nicht möchte. So ist es nur folgerichtig, dass positive kollektive Identifikationsmuster ebenso fehlen wie eine Vorstellung darüber, welche gesellschaftlichen Rahmenbedingungen gegeben sein müssen, um Zukunft gestalten zu können. Wer dazu keinen Willen aufweist, vermisst allerdings auch nichts. Vielleicht ist die hilfreichste Illustration dieses Zustandes, wenn man die großen politischen Skandale und Friktionen anschaut. Da gibt es eher einen Konsens über den nicht enden wollenden und sollenden Ausbau des Konsumentenschutzes vermittels einer stetig wachsenden Bürokratie, und nicht, die Anmerkung sei erlaubt, vermittels Bildung und der Befähigung von Bürgerinnen und Bürgern, selbst vernünftige Entscheidungen zu treffen. Während auf der anderen Seite eine veritable Mehrheit gegen den Ausbau und die Erneuerung der Infrastruktur deutlich zu vernehmen ist.

Alle Versuche, die eher dürftige Ausgangsposition für zukünftige Gestaltungsprozesse beim Namen zu nennen, enden sehr schnell in einer hysterischen Anklage derer, die sich darum bemühen. Das erleichtert allerdings die Suche nach einer Überschrift für den Gesamtzustand, der immer zweifelsfreier als ein hohes Stadium der Dekadenz beschrieben werden kann.

Rachid al-Ghannouchi

Jetzt, nachdem Tunesiens Ministerpräsident Hamadi Jebali das Handtuch geworfen hat, wird deutlich, wer innerhalb der Ennahda-Partei das Sagen hat. Nach dem offenen politischen Mord an dem Oppositionspolitiker Chokri Belaid, der sich für die strikte Trennung von Religion und Staat ausgesprochen hatte und als die deutlichste Stimme des Laizismus in Tunesien galt, hatte Jebali versucht zu de-eskalieren. Indem er sich dafür aussprach, die Interimsregierung sofort von Politikern zu säubern und dafür partei-unabhängige Technokraten einzusetzen, hatte er das Signal aussenden wollen, dass der Mord und die damit verbundene Polarisierung im Land niemandem politisch nutzen sollte. Es war ein letzter Versuch, verloren gegangenes Vertrauen wieder herzustellen. Ministerpräsident Jebali, selbst prominentes Mitglied der islamischen Ennahda-Partei, konnte sich nicht durchsetzen. Der islamistische Flügel um den Vorsitzenden Rachid al-Ghannouchi schlug die Geste zur Versöhnung aus und hielt an der Macht fest. Damit ist klar, dass in Tunesien die offenen Machtkämpfe die nächste Zeit bestimmen werden. Rachid al-Ghannouchi wird dabei eine Hauptrolle spielen.

Der Mitbegründer der Ennahda-Bewegung, den die Oppositionellen im Land als den Drahtzieher der Ermordung Chokri Belaids ansehen, weist eine Biographie auf, wie sie für die aktuelle Nomenklatura im islamistischen Weltgefüge nicht typischer sein könnte. Rachid al-Ghannouchi wurde 1941 in einer tunesischen Kleinstadt als Sohn eines Imams geboren. Prägend für ihn war der Widerstand gegen die französische Kolonialpolitik. Als er nach Tunis geht, um zu studieren, lernt er den immensen Unterschied zwischen Stadt und Land sowie zwischen islamisch-traditioneller und westlich-mondäner Lebensweise kennen. Da er das eine kennt und verinnerlicht hat und das andere schätzen lernt, gerät er früh in eine Identitätskrise. Später, als er Gelegenheit erhält, Europa zu bereisen, erlebt er die aus seiner Sicht Sitten- und Gottlosigkeit in den europäischen Metropolen als einen Schock, von dem er sich nicht mehr erholen soll.

Bereits 1981 gründet er das Mouvement de la Tendance Islamique (MIT), seinerseits Vorläufer der heutigen Ennahda. Noch während der Herrschaft Bourguibas wird Ghannouchi inhaftiert und zum Tode verurteilt. Nach der Ablösung Bourguibas durch Ben Ali wird das Urteil wieder aufgehoben. Dennoch werden die Aktivitäten der Ennahda während der Präsidentschaft Ben Alis nicht gerne gesehen und verfolgt, was der Bewegung bei den ersten freien Wahlen nach dessen Sturz 2010 einen entscheidenden Bonus aus Sicht der Wählerinnen und Wähler gibt: Sie gilt als nicht korrupt und pragmatisch.

Nun, nachdem unter Führung der Ennahda immer noch keine Verfassung vorliegt und sogar der politisch kalkulierte Mord Einzug in Tunesiens Politik genommen hat, stellt sich die Frage, inwieweit Rachid al-Ghannouchi nicht nur der Protagonist der weiteren Geschehnisse wird, sondern auch, da er die Polarisierung des Landes wie kein anderer verkörpert, er derjenige sein wird, der den Scheideweg des Landes zwischen radikalem Islamismus und einer weltlichen, post-kolonialen Demokratie ausmacht. Vom internen Kräfteverhältnis wäre letzteres wahrscheinlich, aufgrund der systemischen Internationalisierung der Arabellion droht die massive Gefahr des ersteren. Je schneller der Name Ghannouchi aus den Schlagzeilen verschwindet, desto größer die Wahrscheinlichkeit, dass Tunesien noch einen eigenen, souveränen Weg in die Zukunft findet. Je länger die Weltöffentlichkeit jedoch den Namen Rachid al-Ghannouchi vernehmen muss, desto gewaltgetriebener, anti-zivilisatorischer und desaströser wird der Weg sein, den Tunesien gehen wird.