Archiv für den Monat Mai 2013

Tacheles

Wenn Angela Merkel ein politischer Konkurrent aus den eigenen Reihen zu nahe kommt, so hat sie aus den Regieanweisungen zur Machterhaltung sehr früh von ihrem Ziehvater Helmut Kohl gelernt, dann macht sie mit ihm gemeinsam einige Bewegungsfiguren, bis dieser dann plötzlich, zu seinem eigenen Erstaunen, weit im Abseits steht und noch lange rätseln wird, wann denn die Kanzlerin von seiner Seite gewichen ist. Das hat sie mit vielen bereits gemacht und in der Union wird die Sorge immer größer, dass die Ära nach Merkel auf den Oppositionsbänken stattfinden wird, weil das regierungsfähige Personal von Mutti komplett durchs Sieb gedrückt worden ist.

Einer, und zwar kein Unbedeutender, weil er schließlich MP in einem einstigen Stronghold der CDU war, nämlich in Baden-Württemberg, fand sich als EU-Kommissar in Brüssel wieder. Bis auf eine Rede in schlechtem Englisch, die alle Vorurteile gegenüber Schwaben bestätigte und zu nichts beitrug als zum seichten Niveau der Kritik, das sich überall durchgesetzt hat, hatten wir lange nichts mehr von ihm gehört. Doch Günther Oettinger wäre nicht Günther Oettinger, wenn er nicht irgendwann auftauchte, um Dinge anzusprechen, bei denen die bekannte Höflichkeit der Sänger schweigt.

Und, damit ihm niemand eine böse Absicht unterstellen konnte, suchte er sich ein popeliges Meeting der belgischen Handelskammer aus, um mit kräftiger Hand auf den europäischen Sack zu schlagen. Lange genug hat er den Betrieb der EU-Politik und der EU-Bürokratie studiert, um zu wissen, wovon er redet. Und natürlich macht er das als der Mann mit seiner Weltanschauung und Überzeugung. Aber was er sagte, hatte es in sich und Bundesregierung wie EU täten gut daran, sich nicht auf eine lapidare Schmähung des Kritikers zu einigen.

Oettinger sprach zum Beispiel über den Zustand einzelnr Mitgliedsstaaten und unterließ dabei die Freundlichkeiten. Neben Ländern in Südosteuropa, in denen neben der wirtschaftlichen Lage auch noch das Demokratieverständnis allen Anlass zur Sorge gebe, sprach er die eu-defätistische Position Großbritanniens zum einen und die abenteuerliche Abkehr von der Wertschöpfung und die alleinige Konzentration auf die Börse zum anderen an. Im Falle Frankreichs kritisierte er eine zu hohe Staatsquote, zu viele öffentlich Bedienstete, zu hohe Rentenleistungen und eine mangelnde Effektivität der Verwaltung. Ganz nebenbei attestierte er dem sonst doch so entschlossen und dynamisch auftretenden Francois Hollande, dass er keinen Plan habe.

Ein ganz besonderer Fall für Günther Oettinger ist natürlich Deutschland. Der Bundesrepublik bescheinigte er, sie stünde im Zenit ihrer Leistungskraft, was sie der Agenda 2010 Gerhard Schöders zu verdanken habe, was weder die CDU und die heutige SPD goutieren werden. Besser, so Oettinger, werde es aber auch nicht, denn die Republik befasse sich nicht mit Themen, die der Optimierung, Reform und Erneuerung dienten, sondern man tummle sich unter Überschriften wie Fracking und Frauenquote, die von den wahren Problemen ablenkten.

Zu jedem einzelnen Punkt kann man sicherlich eine dezidiert andere Meinung haben und die mit guten Argumenten untermauern. Dass allerdings ausgerechnet im so weit vom wirklichen Leben liegenden Brüssel jemand aus der Kaste des politischen Personals die Courage aufbringt, die offizielle Rhetorik in den Wind zu schlagen und einmal Tacheles zu reden, sollte unbedingt honoriert werden. Weder im Berliner Parlament noch aus den Reihen des Brüsseler Staffs ist das sich mehr und mehr etablierende Unwesen der EU so scharf kritisiert worden. Da muss man redlich bleiben und den Mutigen loben und sich die Argumente noch einmal genau ansehen!

Das Pflaster von Paris

In Paris ist das Volk auf der Straße. Nichts Außergewöhnliches für dieses Pflaster. Seit dem untergehenden 18. Jahrhundert konnte die französische Metropole für sich reklamieren, nicht ein, sondern der Seismograph für die politischen Bewegungen Europas zu sein. Hier schrieen die verarmten städtischen Proletarier nach Brot und stürmten danach die Bastille, hier köpften sie Monarchen, Revolutionäre und Konterrevolutionäre, hier krönten sie Bürgerkönige und hier jagten sie Kollaborateure durch die Straßen und hier initiierten sie die letzte große Kulturrevolution gegen das etablierte Bürgertum. Paris war immer ein Pflaster, auf das die Vorboten von Revolution und Konterrevolution zuerst aufschlugen.

Die Hunderttausende, die am 27. Mai 2013 hier und heute auf der Straße waren, werden im ersten Reflex wohl eher mit der zeitgenössischen Vorstellung der Konterrevolution konnotiert. Auch wenn vieles dafür spricht, dass man sich nicht so sicher sein sollte. Isoliert betrachtet und rein faktisch handelt es sich um Proteste gegen die Legalisierung und gesetzliche Gleichstellung von Homo-Ehen mit denen Heterosexueller. Insofern läge auch die Bemerkung nahe, dass sich die Moral des Ancien Regimes erhöbe, um dagegen zu protestieren.

Was allerdings auffällt und von den unterschiedlichen Betrachtern berichtet wird, ist die politische und soziale Heterogenität derer, die da mit einer derartigen Vehemenz protestieren. Die ersten Deutungen schreiben es einem allgemeinen Protest gegen die Regierung des Sozialisten François Hollande, der mit einer rigorosen Symbolpolitik das Land tief zu spalten bereit sei. Angefangen von einer Reichenbesteuerung, die bis zu 75 Prozent geht und nichts beiträgt zur Sanierung der Staatsfinanzen, fortgesetzt über Arbeitsmarktgesetze, die keine Bürokratie der Welt wird umsetzen und kontrollieren können bis hin zu einer neuen Anti-Diskriminierungsgesetzgebung, die die Politische Korrektheit formalisiert und eben jener absoluten Gleichstellung von Homosexuellen bei der Eheschließung.

Letzteres, so ist zu vermuten, hat ein Fass zum Überlaufen gebracht, das in vielen Ländern Europas ebenso gut gefüllt ist: Das der politischen und gesetzlichen Festschreibung eines neuen Moralismus, der die Grundwerte von Freiheit und Gleichheit in der Lage ist außer Kraft zu setzen. Schon seit einigen Jahren fällt auf, dass die wachsende Liberalisierung der Politik der Gleichstellung, die sich dann zur Enttäuschung vieler sehr schnell in eine reglementierende und selbst diskriminierende Kraft verwandelt, neue politische Bewegungen hervorbringt, die offensichtlich genau das propagieren, was man eben gar nicht wollte: Hass und Intoleranz. Dass letzteres an der Verwandlung des Toleranzanspruchs in einen moralischen Rigorismus liegt, kann nicht mehr bezweifelt werden.

Gegen das, was sich heute auf den Straßen von Paris abspielt, sind die so genannten rechten politischen Strömungen in Europa eine Petitesse. Denn die Pariser Massenbewegung besteht eben nicht aus den klassisch verdächtigen Milieus der Ungebildeten, wirtschaftlich Erfolglosen und politisch Perspektivlosen. Hier hat sich zum Teil eine sehr erfolgreiche, aber nicht elitäre, eine sehr liberale, und nicht intolerante Bürgerschaft versammelt, um gegen das Ausmaß an Minoritätenrechten und Egalitarismus zu protestieren. Hier geht es auch um die nicht mehr hinzunehmende symbolische Bestrafung von Erfolg und die Bestrebungen, im orwellschen Sinne manche gleicher als gleich machen zu wollen. Hollande und seine Regierung zeichnen sich bis jetzt dadurch aus, die Empathie für das Gerechtigkeitsgefühl der Gesellschaft nicht zu besitzen. In den USA folgte dem Übermaß der Political Correctness aus der Clinton Ära das Kapitel Bush. In Europa ist noch alles offen, aber in Paris kann man schon mal spekulieren, wohin die Entwicklung zu treiben in der Lage ist.

Schutzzölle auf Solarmodule?

Wenn der neue Ministerpräsident der Volksrepublik China, Li Keqiang, in den nächsten Tagen zu seinem ersten Besuch nach Europa kommt, hat er bereits einen ersten Protest im Gepäck. Der ist zurückzuführen auf Überlegungen der EU-Bürokratie, auf chinesische Solarmodule Schutzzölle bis zu 47 Prozent belegen und gleichzeitig Anti-Dumping-Mechanismen in Gang setzen zu wollen. Das ist bemerkenswert und bestärkt eine Tendenz, die das Projekt Europa zumindest in seiner Doppelbödigkeit einem offenen und transparenten Diskurs aussetzen sollte.

Neben der offiziellen Rhetorik, die für Europa wirbt und in der es immer und vor allem offene Grenzen, Frieden und Menschenrechte, um demokratische Verfassungen und die Selbstbestimmung der Völker geht, existiert noch eine andere Seite. Auch wenn die genannten, durchweg positiv besetzten Begriffe nicht immer einer kritischen Prüfung standhalten, wenn man sich zum Beispiel die Regierungsmannschaft vom Kosovo oder die binnenpolitische Entwicklung in Ungarn anschaut.

Die besagte andere Seite jedoch ist die des Imperiums Europa. Da sitzt eine streng zentralisierte Bürokratie in Brüssel, die in positiver wie negativer Hinsicht exklusiv eine Funktion wahrnimmt: Die der Restriktion. Die positive Variante, aber nur, wenn man so will, besteht in der Zuteilung von zentralistisch zu vergebenen Subventionen, die bis in atemberaubende Details wie der Finanzierung von Bootsstegen geht. Des Weiteren, und nun sind wir bei den negativen Erscheinungsformen, zeichnet die EU-Bürokratie verantwortlich für eine zum Teil despotisch erscheinende Reglementierung nach innen. Das begann irgendwann einmal mit der Definition der Dimensionen von Karamellbonbons und setzt sich aktuell mit der Verbannung rumänischer Frikadellen fort, weil diese Elemente von Backpulver enthalten. Eine derartige Politik unterminiert alle positiven Konnotationen mit dem Projekt Europa.

Das Ärgernis für den chinesischen Ministerpräsidenten schließlich bezieht sich auf die EU-Sanktionen nach außen. Da tritt das marktliberale Europa plötzlich auf wie eine Blaupause des historischen Merkantilismus, der nur die Binnensicht zulässt und gnadenlos zum Mittel des Protektionismus greift, wenn die eigene Konkurrenzfähigkeit zu kurz greift. Wie oft haben wir vor allem von deutscher Seite den Vorwurf der Schutzzollerhebung seitens der USA und Plädoyers für den freien Markt gehört. Dass nun, zugegebenermaßen, die Bundesregierung im Falle der Solarmodule aus China einlenken will, sei fairerweise angemerkt.

Dabei muss es für die deutsche Position schmerzhaft sein und sollte zu denken geben. Besonders im Bereich der energiebezogenen neuen Technologien wähnte man sich hier vor allem politisch in einer Vorreiterrolle. Nirgendwo sonst hat der Staat bei der Entwicklung von Technologien wie der solaren Energieerzeugung und Energiespeicherung derartige Bedingungen geschaffen wie hier, durch Steuervergünstigung und direkte Subvention. Was zu denken geben sollte ist die Tatsache, dass direkt nach der Einstellung der direkten Subventionen und der Minimierung der Steuervergünstigungen die Solarindustrie hierzulande nahezu implodierte. Um es präzise und deutlich zu sagen, sie lieferte ein Beispiel für die Marktunfähigkeit. Dieses Phänomen lässt sich anhand zahlreicher Geschichten in der jüngeren deutschen Industriegeschichte nachweisen, man entsinne sich nur an Themen wie die Halbleiterproduktion aus dem Hause Siemens. Es existiert eine Tendenz, mit staatslich vorangetriebenen Projekten Zeichen setzen zu können. Und die Marktfähigkeit endet mit der Einstellung der Subventionen.

Dass die EU nun zum Mittel des Protektionismus greifen will, ist ein Zeichen von Schwäche. Ausgerechnet Solarmodule! Ausgerechnet aus China! Da passt vieles nicht mehr zusammen. Und schon gar nicht zu den politisch erzählten Legenden!