Archiv für den Monat November 2013

Das Kuriose des Fortschritts

Der Fortschritt ist ein eigentümliches Wesen. Immer wieder wird er herbeigewünscht. Und viele, die sich für ihn engagieren, sind dazu verurteilt zu scheitern. Oft opfern sie Jahrzehnte ihres Lebens, um ein wichtiges Ziel auf dem Weg zu erreichen, den man den Fortschritt nennt. Und nicht selten kommt es dann alles ganz anders. Die Mütter und Väter der Vision, die den Fortschritt beschrieben, sind längst nicht mehr unter uns und zieren die Friedhöfe, die Kämpferinnen und Kämpfer, die Aktiven, die Pioniere, die Promotoren haben sich verschlissen auf dem langen Weg der Hindernisse und Konfrontationen und irgendwann tauchen andere auf, völlig ausgeruht und ahnungslos, und gerade sie, die Leidlosen, sie lösen etwas aus, was die Sehnsucht vieler Erfolgloser war.

So brutal kann die Geschichte sein, oder, um realistisch zu bleiben, es ist ihre immer wiederkehrende Ironie. Nur sollte man sich davor hüten, die Früchte des Fortschritts, die so epigonal geerntet wurden, wegen der Leichtigkeit ihrer Lese zu verschmähen. Vielen ist die Ernte, die der Scharlatan von seiner Schlenderei beiläufig mit nach Hause bringt verdächtig, man traut ihr nicht, weil man die Plagen und Schindereien kennt, die aufgewendet wurden, um an sie heran zu kommen und es dann doch nicht tat. Dieses Phänomen ist die Folge des Leids, das aufgewendet wird, um etwas zu erreichen, dass man dann nicht bekommt. Das Leid trübt Blick und Urteilskraft.

Und genau so kann man manche Vereinbarung lesen, die im Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD jetzt steht. Diese Ergebnisse sind allesamt kontrovers diskutierbar, aber sie enthalten auch Schritte, die zweifelsohne als große auf dem Weg des Fortschritts beschrieben werden könnten. Jeder Mensch hat natürlich seinen eigenen Blickwinkel, aber das wohl Rückständigste der Republik der letzten vierzig Jahre war die Phantasie von den essentiellen Voraussetzungen, die mitgebracht werden mussten, um die deutsche Staatsbürgerschaft zu erlangen. Der reaktionäre, rasseorientierte Rekurs auf das ius sanguinis, das Recht des Blutes, war nicht nur ein Schlag in das Gesicht einer Demokratie, sondern führte zu Kuriosa, die bis zur Hebung von Stalin zwangsumgesiedelter wolgadeutscher Urgroßmütter, die im fernen Kasachstan gehoben wurden, um ein Passbegehren im rheinischen Düsseldorf zu begründen während im Hier und Jetzt geborene Kinder von Immigranten über diesen Schmarren den Kriegsdienst im fernen Kurdistan garantiert bekamen.

Alles Gerede über Demographie und das Ende des Wachstums ruhten auf diesem Gerümpel völkischer Ideologie und jede Barriere bei einer erfolgreichen Integration derer, die sich für dieses Land entschieden haben, ließ sich darauf zurückführen. Sollten die Mitglieder der SPD dem vorgelegten Koalitionsvertrag zustimmen, dann ist das ius sanguinis durch das ius soli, das Recht des Bodens abgelöst. Dann bekommt jedes Kind, das auf deutschem Boden geboren wird, einen deutschen Pass. Bei Migrantenkindern wird es dann zwei Pässe geben und erst mit der Volljährigkeit muss sich die Mitbürgerin oder der Mitbürger entscheiden, welche Nationalität er oder sie endgültig wählt. Das ist bürgerlich im wahren Sinne des Wortes. Das entspricht dem Format einer Demokratie. Das entspricht der Würde dieser Menschen. Und das entspricht der Zeit, in der wir leben. Es ist ein Fortschritt. Und lassen wir uns den Blick nicht trüben durch das Leid, das hinter jenen liegt, die schon immer vergeblich dafür kämpften und das Spielerische, mit der die SPD es jetzt erreicht hat. Wenn dieses Gesetz in Kraft tritt, sollten wir kräftig feiern, denn zur selben Zeit mit dem Fortschritt am selben Ort zu sein, dieses Privileg wird uns nur selten zuteil.

Inflation & Kommunikation

Inflationäre Tendenzen weisen immer auf ein verborgenes Defizit hin. Beim Geld, d.h. der Kaufkraft, bewirkt die Inflation ein Hochschnellen des Preises, was für den Käufer bedeutet, dass er für die gleiche Geldmenge weniger bekommt. Das heißt, entweder ist das Angebot verknappt oder das Geld als solches verliert an Wert, weil die ihm als Sicherheit hinterlegten Güter wiederum an Solvenz verlieren. Nicht anders verhält es sich mit der Inflation z.B. von Begriffen, die eine bestimmte Provenienz aufweisen, nehmen wir einmal so etwas wie Anglizismen. Der Anstieg der Anglizismen hatte zum einen etwas mit der Aufwertung des Englischen auf dem Weltmarkt zu tun, welches hervorging a) aus der Macht des Britischen Empire und nach dessen Niedergang durch die Hegemonie der USA. Die Inflation von Anglizismen hatte etwas zu tun mit Macht und der damit einhergehenden Vorstellung, dass die eigenen Sprachen Potenz verloren hatten. Der Tauschwert des Englischen war beträchtlich gestiegen, der anderer Sprachen relativ gesunken.

Beim Begriff der Kommunikation befinden wir uns in vielen Ländern gerade in einer analogen inflationären Situation. Durch die technische Revolution in Form der Digitalisierung und die damit einhergehende Expansion auf alle Lebensbereiche hat die Kommunikation die Hegemonie gewonnen. Das Absurde an diesem Prozess ist, dass genau die Prozesse, z.B. der der materiellen Wertschöpfung, wesentlich dingfester zu machen sind als die semantische Qualität von Kommunikation. Und dennoch steht die Kommunikation gegenüber anderen Prozessen dominant im Raum. Ohne sie geht gar nichts und der Bedarf ist genauso inflationär wie ihr Gewicht. Wer schlecht kommuniziert, so heißt es, der hat schon so gut wie verloren, egal, was er oder sie sonst auch anstellt. Man könnte den Eindruck gewinnen, als genösse das Immaterielle der Kommunikation einen höheren Stellenwert als alles Messbare.

Wertgewinn auf Seiten des Begehrten und Wertminderung bei den Maßen der zu tätigenden Aufwendungen bildet jedoch nicht nur einen rechnerischen Prozess ab. Vielmehr drückt die Inflation auch etwas aus, das in Emotion und Psyche zu finden ist. Und das Interessante dabei ist, dass die psychische Implikation wichtiger sein zu scheint als die rechnerische. Das ist beim Geld so, das ist bei einer Sprache so und das ist erst recht bei der Kommunikation so. Die Faustregel, auf die man sich in allen Bereichen verlassen kann, ist schlicht: Wenn das Vertrauen in etwas sinkt, dann wird die Forderung nach der tatsächlichen Wirkung dessen, dem man nicht mehr vertraut, umso lauter. Ein Vertrauensverlust hinsichtlich der Zahlkraft des Geldes führt ebenso zur Inflation wie der Vertrauensverlust in die Zuverlässigkeit von Informationen zu der Forderung nach mehr Kommunikation passt.

Doch Schein und Sein pflegen gerne eine tückische Liaison einzugehen, denn immer mehr Zeitgenossen glauben, der Stellenwert der Kommunikation speise sich aus dem Bedürfnis der Menschen über alles immer lückenlos informiert werden zu wollen. Das ist der Schein, denn wer ziemlich lückenlos zu etwas informiert wird merkt sehr schnell, dass so etwas zu einer Bürde werden kann, die alles andere als mehr Klarheit verschafft. Die Inflation des Stellenwertes von Kommunikation ist der psychosoziale Hilferuf auf eine allgemeine Erosion des Vertrauens. Nie war es in einem derart schlechten Zustand. Und nie wurde mehr darüber kommuniziert, ohne dass die Ursache der Klage benannt worden wäre.

Eine Inszenierung des Wesentlichen

Frau Contra Bass. Comes Love

Es ist ein ehrgeiziges Unterfangen. In einer Zeit, in der die technische Perfektionierung und die Erzielung immer neuer Soundeffekte zum Nonplusultra der zeitgenössischen Aufnahmetechnik gezählt werden, Stücke auszuwählen, die unzählige Male bereits interpretiert wurden und diese auf die Kernaussagen zu reduzieren. Sowohl in Interpretation wie Technik. Das Projekt Frau Contra Bass, bestehend aus der Sängerin Katharina Debus und dem Bassisten Hanns Höhn, hat mit dem Comes Love seine dritte CD eingespielt. Die Titel gehören zu dem Standardrepertoire des amerikanischen Jazz des 20. Jahrhunderts. Mit Kompositionen von Cole Porter, Duke Ellington, Michel Legrand, Billy Strayhorn, Jimmy van Heusen und Guy Wood wurden prominente Weisen ausgewählt, die mittlerweile zur Weltmusik zählen.

Das genannte Repertoire birgt alle Risiken, die bei einer Neuinterpretation nur existieren können. Alle Großen des Jazz haben sie durchdekliniert und ihre unvergesslichen Spuren hinterlassen. Um so erfreulicher ist es, dass Debus/Höhn sich ihre Courage nicht haben nehmen lassen. Mit bestechender Schlichtheit haben sie die Stücke konsequent nach dem eigenen Projekttitel interpretiert: Der Gesang wird durch den akustischen Bass kontrapunktiert. Sie gewinnen dadurch erheblich an Essenz. Es geht nicht um die Virtuosität oder die interpretative Extravaganz, sondern um die semantische Treue zur Vorlage. Katharina Debus verleiht mit ihrer narrativen Stimme den Stücken eine Authentizität, die den Atem zum Stocken bringt. Tausendmal Gehörtes gewinnt durch die Reduktion erheblich an Überraschung. Kein Wunder, dass manche Titel nicht mehr an eine Broadway-Revue erinnern, sondern wirken, als seien sie einer Brecht-Weill-Komposition entnommen. Hanns Höhn gelingt es dabei, die Textaussagen zu unterstreichen oder zu verfremden, je nach Intention. Das ist große Klasse und in der gegenwärtigen Ratlosigkeit, die das Genre zuweilen überfällt, eine ungeheure Bereicherung.

Der Jazz, so wie er sich seit seiner Entstehung immer wieder generierte, schaffte die Mutation zu neuen Dimensionen immer nur durch die Konzentration auf das Wesentliche. Die momentan zu beobachtende Krise macht sich vor allem bemerkbar durch den Wunsch vieler Solisten, das technische Arsenal zu erweitern, was historisch in Übergangsphasen immer wieder zu beobachten war, aber nie zu einer Erneuerung geführt hat. Frau Contra Bass hingegen scheint den richtigen Weg eingeschlagen zu haben. Nahezu alle Stücke bewirken durch ihre Interpretation die Freilegung ihrer ästhetischen Essenz. Egal, welche Titel man sich vornimmt und zu einer meditativen Übung nutzt, Ob I Got It Bad, Windmills Of Your Mind, Lush Life, Moonlight in Vermont, But Beautiful, Cry Me A River oder Nature Boy, die Botschaften werden quasi nach einer präzisen, einfühlsamen archäologischen Arbeit wieder freigelegt. Sie handeln von dem großen Projekt des Pursuit of Happiness, mit allen Rück- und Niederschlägen und der nie bezwingbaren Hoffnung. Das ist einfach großartig.

Und als wäre es nicht genug mit der gelungenen Innovation durch die Reduktion technischer Komplexität ist mit Hanns Höhns Interpretation (ohne Gesang) von Fever eine Aufnahme gelungen, die mit ihrer musikalischen Essenz sicherlich zu den besten gehört, die jemals zu dieser Weise eingespielt wurde.

Comes Love von Frau Contra Bass ist, kaum bemerkt, zu einem Meilenstein der zeitgenössischen Entwicklung des Jazz geraten. Die Stücke ermöglichen es, das Wesen des Jazz-Standards neu zu reflektieren. Dass das unter die Haut geht, liegt an der Natur der Sache und an diesen beiden großartigen Interpreten.