Archiv für den Monat Februar 2014

Paco de Lucia

Die unbeschreiblichen Klänge, die Virtuosität, die Verve, das tief in einer unsterblichen Tradition Verhaftete, die Passion und die Offenheit gegenüber allem, was inspiriert, wird bleiben. Paco de Lucia, der Titan des Flamenco, hat sich als Gast von dieser Erde für immer verabschiedet. Mit seinem Namen verbindet sich nicht nur der Flamenco, wie er in das 21. Jahrhundert herüber gerettet wurde, sondern auch das Bild eines Künstlers, das eigentlich schon lange nicht mehr existiert: Die Einheit der handelnden Person mit dem Genre. Paco de Lucia wurde 1947 im andalusischen Ageciras geboren und stammte aus einer Musikerfamilie. Er erlernte das Gitarrenspiel früh und so, wie es in den großen Schulen des Flamencos üblich war. Bevor man ihn lehrte, wie er seinem Gefühl eine Form in den bestehenden Flamenco-Skalen geben konnte, musste er sich selbst ein Instrument bauen. Heute nennt man so etwas einen holistischen Ansatz. Letzterer war geboren aus dem tief verwurzelten Wissen, dass wahre Meisterschaft nur entstehen kann, wenn die handwerkliche Fertigkeit mit der Kenntnis um die bestimmenden Teile korrespondiert.

Das Leben Paco de Lucias als Künstlers ist schnell erzählt. Er wuchs mit der Gitarre auf und blieb ihr treu. Er lebte in dem heilsamen Wahn eines übenden Meisters, dem alles andere um ihn herum gleichgültig blieb. Viele große Namen aus Klassik und Jazz holten ihn zu sich, wenn sie Korridore öffnen und dem Publikum zeigen wollten, dass es etwas gibt, das sich durch technische Virtuosität alleine nicht kaufen lassen konnte. Die uneingeschränkte Passion, das Einssein mit Idee und Form. Die Größe Paco de Lucias bestand in seiner Demut. Er wusste um die Fehlbarkeit, egal auf welchem Niveau. Und er wusste um den Schlüssel zum Geheimnis des künstlerischen Schaffens, der brennenden Neugier gegenüber allem Neuen, ohne die kollektive Erfahrung des Genres dafür preiszugeben.

Die beschriebene Qualität sorgte dafür, dass es schwer ist, Werke dieses Künstlers zu nennen, um seine Großartigkeit zu dokumentieren. Alles, was er jemals aufgenommen hat, ist eine aufregende Reise in die Welt des Flamencos und der Weltmusik. Und dennoch seien drei Stücke genannt, die nach seinem so unerwarteten Tod dazu geeignet sind, ihn noch einmal ins Gedächtnis zu rufen. Das wäre Almoraima, eine Hommage an das Temperament des Flamencos, da wäre Entre dos Aguas, eine Referenz an seine Herkunft, der Straße von Gibraltar, eine Sinfonie hinsichtlich musikalischer Übergänge. Und da wäre der spanische Klassiker Aranjuez, der in seiner Interpretation vergegenwärtigt, wie sehr die ästhetischen Formen der Hochzivilisation mit der Impulsivität der Straße verbunden sind.

Die Demut Paco de Lucias äußerte sich in ganz einfachen Dingen. Immer zog er es vor, jenseits des großen Rummels und der medialen Publicity die Zeit für seine Übung zu nutzen. Er selbst nannte die ständige Vervollkommnung seines Spiels einen Zustand der Meditation. Oft zog er sich in Spaniens Wüsten zurück, um mit seiner Gitarre allein zu sein. Einmal gefragt, was seine Lieblingsspeisen und Getränke seien, antwortete er in seiner ihm eigenen Art. Alles, was man mit dem Löffel essen könne, d.h. Eintöpfe und Suppen. Und natürlich Tinto, vorzugsweise einen kräftigen vom Lande. Mehr brauchte er nicht, um die Welt zu beschenken. Mit Paco de Lucia starb am Strand des mexikanischen Cancun, beim Spiel mit seinen Enkelkindern ein Mann, der das Leben vieler bereichert hat und dem Volk erhalten blieb.

La Comédie Humaine

Die Deutschen sind es, die sich in ihrer Geschichte mehr als abgemüht haben, die Welt durch ein jeweiliges System erklären zu wollen. Das lag nicht an ihrem Genius, wie manche gerne zu glauben bereit sind, sondern an ihrem nahezu genetisch nachweisbaren Dogmatismus und einer atypisch verlaufenden Beweisführung der Aufklärung. Der erste und allumfassende Versuch, die Welt und ihre Funktionsweise zu erklären, ist die monotheistische Religion. Das Christentum in Europa und Deutschland reklamierte selbstverständlich in seiner Blüte die Exklusivität der Weltdeutung. Und als es an der Zeit war, die Welt neu zu denken, weil das Denken selbst systematischer wurde, da war es Luthers Reformation, die das Himmlische irdischer machte und die Verantwortung des Menschen vergrößerte, aber das inhärente System der Welterklärung blieb seinem Wesen nach erhalten.

Was folgte, war die so genannte klassische deutsche Philosophie, ob Fichte oder Feuerbach, Schelling, Kant oder Hegel, sie alle entliehen den holistischen Interpretationsanspruch auf ihr eigenes System, bei dem nichts ausgespart blieb. Das entwickelte sich so pathologisch, dass bis in die deutsche Bürokratie hinein nie eine Toleranz zugelassen wurde, die auch nur eine Erscheinung des Lebens der Deutungshoheit des Systems entgleiten ließe. Einmal im System, immer im System.

Heute, in einem neuen Zenit der Komplexität, erscheint das alles doch sehr verwegen, wiewohl es keine Revision dieses Anspruches gibt. Nirgendwo auf der Welt ist die systemische Regelungs- und Erfassungsmanie so ausgeprägt wie hier und nirgendwo ist die Laune so schlecht, weil jede Abweichung den Ertrag verdirbt. Politisch interessant hingegen ist der aus dem sakrosankten Holismus abgeleitete Aberglaube, dass alles, was menschliche Kreaturen so anstellten, doch eigentlich durch eine systemische Reflexion in Bewegung gesetzt worden sein müsse, weil sonst doch alles keinen Sinn mache. Nur: Es ist nicht so. Auch die Deutschen, ob sie es nun wahrhaben wollen oder nicht, sind triebgesteuerte Wesen, die nicht immer eine Religion, ein philosophisches System oder eine Verwaltungsrichtlinie im Kopf haben, wenn sie eine Türklinke herunterdrücken, ein Schnäpschen kippen oder von einem sexuellen Kontakt träumen. Das Gräuel eines jeden Gedankensystems herrscht auch hier, im Homeland des puristischen Geistes: Es menschelt überall.

Vielleicht sollten wir doch in vielerlei Hinsicht dieser Erkenntnis einige praktische Konsequenzen folgen lassen und die Tatsache einfach anerkennen. Die Aufklärung hatte auch zur Folge, dass die Zwangsjacken entsorgt wurden. Wenn heute auch unaufgeklärte Menschen sich weigern, diese wieder anzuziehen, sollte das nicht verärgern. Das Recht auf unreflektierten Irrtum sollten wir nicht so einfach in den Wind schlagen. Denn für manche Existenzen ist der Moment des Untergangs der vielleicht schönste hier auf Erden.

Und vielleicht sollten wir uns einmal, ganz zur Entspannung, der epistemologischen Libertinage in manchen Phasen der französischen Geschichte erinnern, in denen ein Balzac sich die luxuriöse Frivolität erlaubte, wie Welt mit einem immensen Fortsetzungs- und Beziehungsroman zu revolutionieren, ohne gleich von einem System zu sprechen. Mehr noch: Er besaß die Frechheit, das Monumentalwerk auch noch die Comedie Humaine zu nennen. Statt zu glorifizieren und zu maximalisieren miniaturisierte Honoré de Balzac das Gewese um die menschliche Existenz, ohne auch nur in einer Zeile die Deutungshoheit zu verlieren. Was er aber der Ratio des Betrachters hinzufügte war etwas, das allen so unbestechlichen Gedankensystemen abgeht: Er fügte eine Wärme hinzu, die das Seelchen braucht, wenn der Kopf in Kälte erstarrt. Das erzeugt Demut. Und Systeme ohne Demut, die sollten wir uns einfach nicht leisten.