Archiv für den Monat August 2015

Exterritoriale Revue 0

Jeremy Corbyn, ein bis dato eher unauffälliger Politiker bei British Labour, spaltet die Partei aufs heftigste. Den einen gilt er als Hoffnungsträger, den anderen als die Inkarnation längst überlebter Zeiten. Corbyn selbst vertritt tatsächlich eher klassische Positionen der Arbeiterbewegung: Stärkung nationaler Industrien, eine konservative Energiepolitik, stärkere Besteuerung der Reichen und bessere Löhne für die Beschäftigten in der verarbeitenden Industrie. Der Zuspruch innerhalb Labours ist immens. Tony Blair, Her Majesty of New Labour, hingegen ist entsetzt und giftet böse. Der Versuch, GB zurück in eine Zeit zu versetzen, in der nicht Londons Financial District die Politik des Landes bestimmt, erhitzt gewaltig die Gemüter.

Im Monat August noch wurde der Opfer von Hiroshima und Nagasaki gedacht. Immer noch sitzt das Leid tief und ist die Trauer groß über die abscheulichste Attacke auf ein zivilisatorisches Ballungsgebiet durch den Abwurf zweier amerikanischer Atomraketen im Jahr 1945. Quasi gleichzeitig hat die Partei des japanischen Ministerpräsidenten Shinzo Abe dem Parlament einen Gesetzesentwurf vorgelegt, der die Regierung autorisiert, im Bedarfsfall militärisch exterritorial einzugreifen. Bis dato ist das nicht möglich. Seit der Niederlage im II. Weltkrieg hat das Land eine konsequente und strikte Position der Landesverteidigung vertreten. Angesichts umstrittener Territorialansprüche mit Russland und China kann die Initiative der Regierung auch als Drohung verstanden werden. Massenproteste in Japan sind die Folge. Hunderttausende gingen in Tokio und anderswo auf die Straße.

Ungarn entpuppt sich als das Safe House für radikalstaatliche Ideen zur Sicherung tradierter Verhältnisse. Das EU-Mitglied profiliert sich durch die Regierung Orban nicht als das gemeinsame Haus Europas, von dem die Gründer der EU noch schwärmten. Zunächst wurden Sinti und Roma durch diskriminierende Gesetze weiterhin marginalisiert, dann sollten die nationalen Freimaurerverbände ihre Mitgliederlisten der Regierung übergeben, was diese nicht taten, und nun wird ein Zaun, eine Mauer gebaut, um Flüchtlinge von außen fern zu halten. Deutschland, selbst traumatisiert durch die Existenz einer Mauer über nahezu drei Jahrzehnte, schweigt.

Im Jemen tobt weiter der Krieg. Nach Berichten, die in unseren Sphären kursieren, geht es bei dem Kampf um die Dominanz zwischen Sunniten und Schiiten. Sieht man sich die Strongholds der beiden muslimischen Richtungen an, dann geht es vor allem um die Konkurrenz zwischen Saudi-Arabien und dem Iran. Die im Jemen operierenden Huthi-Rebellen sind Schiiten und werden daher konsequent von saudi-arabischen Streitkräften bombardiert. Der Konflikt innerhalb der islamischen Welt um Vorherrschaft wird im Westen selten thematisiert und analysiert. Die Reduktion des Konfliktes auf Israel und den Iran erklärt vieles andere nicht. Das Morgenland bleibt vielen westlichen Politikern ein Mysterium.

Der Zeitpunkt des offiziellen Abzugs deutscher Truppen aus Afghanistan rückt näher. Das Land wird sich auch danach, unabhängig von der weiteren Form westlicher Militärpräsenz, mit den alten, tradierten Interessen auseinanderzusetzen haben. Warlords und Nomaden dominieren ein wildes Land, in dem es immer um Mohn und Waffen ging. Imperiale Mächte gingen immer leer aus, weil eine militärische Überlegenheit am Boden nie gewährleistet werden konnte. Der Interessenkonflikt um den Heroin-Rohstoff wird bleiben, der über den Zugriff auf im Land vorhandene seltene Erden ist hinzugekommen. Vieles spricht dafür, dass auch die Zukunft des Landes unruhig und gewaltsam sein wird. Und vieles spricht dafür, dass die finanziellen und militärischen Mittel, zu denen im Westen gegriffen wird, um im Spiel zu bleiben, bald nicht mehr mit dem Recht der Mädchen auf Schulbesuch erklärt werden können.

Das entsetzte Deutschland

Wir bewegen uns in Parallelwelten der Erkenntnis. Alles, was mit dem Thema Politik zu tun hat, wird in den unterschiedlichen Wirkungsebenen unterschiedlich interpretiert und verstanden. Im Wesentlichen ist das die Realität derer, die die Politik machen. Sie haben ein Bild von sich und ihren Taten, das sie mittlerweile relativ unreflektiert und ohne kritischen Filter via die Staatsmedien in die Fläche senden können. Dann gibt es eine breite Öffentlichkeit, die ihrerseits auf bestimmte Mechanismen konditioniert ist. Der größte Erfolg bei der Entmündigung der Bevölkerung ist die Minimierung der Fähigkeit, Politik als etwas Interessen geleitetes zu verstehen und statt dessen Politik als einen Vollzug moralischer und ethischer Verantwortlichkeiten erscheinen zu lassen. Das ist ein Massensymptom in dieser Republik und das ist die Ursache dafür, dass sich wohl in naher Zukunft ein Desaster an das andere reihen wird.

Über den Mainstream hinaus existiert noch ein Segment, das, fälschlicherweise, momentan als Rechtsradikalismus oder Neonazitum bezeichnet wird, aber etwas differenzierter zu betrachten ist. Es handelt sich zum einen um die Verlierer dieser Gesellschaft, die aufgrund der eigenen Chancen auf dem Arbeitsmarkt keine Perspektive haben und denen nie kommuniziert wurde, dass die Gesellschaft, die sie mit Transferleistungen alimentiert, etwas von ihnen erwartet. Sie ahnen, dass ihre Zeiten schwerer werden, wenn sich Konkurrenz hinzugesellt, die sich konstruktiver und produktiver verhält. Die Mitleidsmasche ihnen gegenüber war falsch, die Mitleidsmasche ist falsch und es muss klar gemacht werden, dass Leistung auf Gegenleistung beruht. Den Chefärzten und Anwälten, die sich auch in diesem Pulk bewegen, muss tatsächlich die harte Hand des Antifaschismus begegnen.

Und dann ist da noch eine Gruppe, die vielleicht als das entsetzte Deutschland bezeichnet werden muss. Es sind diejenigen, die die Politik in ihrer Entwicklung sehr kritisch begleitet haben und die es noch fertig bringen, Ursache und Wirkung in einen kausalen Zusammenhang zu bringen. Sie wissen, dass die Destabilisierung des Balkans zu den heutigen Zuständen dort geführt hat und kein Getöse über irgendwelche Schlepperbanden die Verantwortung dieser Republik an Not, Elend, Gewalt und Verfolgung in diesem Teil Europas tilgen wird.

Analog ist es mit den Positionen im arabischen Frühling, der Haltung gegenüber Libyen und den Waffenlieferungen in den Nahen Osten insgesamt, wer woanders Geschäfte mit Messer und Mord macht, darf sich nicht wundern, wenn die Gepeinigten dahin gehen, woher die Überlegenheit ihrer Gegner zuhause war. Diese Erkenntnisse verbreiten sich vor allem im Netz, ob dieses Faktum alleine zu einer Veränderung der Verhältnisse führt, ist zu bezweifeln. Aber zur Durchbrechung der Ideologie, die von denen verbreitet wird, die pausenlos neues Unheil anrichten, werden die Diskussionen einen Beitrag leisten.

Denn obwohl die gesellschaftliche Ratlosigkeit aufgrund der gegenwärtigen Geschehnisse groß ist, ist die Bundesregierung mit ihren Plänen zur Ukraine mitten in den Vorbereitungen der nächsten Katastrophe. Eine Beteiligung bei militärischen Handlungen wäre noch das kleinste Übel, da die Sache ohne Eskalation mit den USA schnell zugunsten Russlands entschieden wäre. Sicher ist nur jetzt schon, dass der zu erwartende Zuzug aus der Ukraine aus militanten Kriminellen und entrechteten Prostituierten bestehen wird. Die lieben Brüder und Schwestern, die für die Demokratie in ihrem Lande kämpfen, werden es nicht schaffen, dafür werden die geschätzten Oligarchen schon sorgen. Aber wie war das noch? Vor einem Vierteljahrhundert erschien ein Buch mit dem Titel Die Barbaren. Darin wurde die Politik des Westens geschildert und logisch einfach angenommen, was passiert, denn sich die Verlierer aus den destabilisierten Ländern auf den Weg über das Mittelmeer nach Europa machten. Niemand wollte es so richtig glauben.

Von Schleusern und Moralisten

Es gehört sich einfach, Schreckliches, das passiert, durch eine eigene Stellungnahme zu kommentieren. So denken zumindest viele in der Republik. Vor allem Politikerinnen und Politiker, deren Geschäft die Republik selbst ist. Vielleicht ist alleine dieser Umstand schon ein Indiz für den Zustand des Gemeinwesens. Warum, so drängt sich schon auf, warum muss immer alle Welt, ob berufen oder nicht, den Mund aufmachen und zu Katastrophen, seien es Unwetter, Unglücke oder Wahnsinnstaten irgendwo auf der Welt, den eigenen Senf zu geben? Und, das wäre die noch wesentlichere Frage, warum versuchen diese Akteure dann nicht, die Vorkommnisse zu erklären – was, nebenbei, auch unerträglich wäre -, sondern warum geben sie ihren moralischen Standpunkt zu dem Geschehenen der Öffentlichkeit preis? Da ist dann immer nur zu hören, dass Abscheu, Entsetzen, Anteilnahme und Erschütterung im Spiele ist. Sind das die Statements, die wir von Profis erwarten, die das Schiff in einer Welt der Turbulenzen steuern sollen? Oder ist es ein Indiz für den Gesamtzustand, dass nur noch ein moralisches Bekenntnis ausreicht, um sich im Lager der Guten zu positionieren? Dann wäre allerdings aus dem Staatswesen, mit Verlaub, zumindest in geistiger Hinsicht, eine Sekte geworden.

Der massenhafte Tod von vermutlich syrischen Flüchtlingen in einem Kühlwagen auf eine Straße in der Nähe von Wien ist so ein Ereignis. Die zufällig in Wien bei einer Tagung mit Staaten des westlichen Balkans erwischten Politikerinnen und Politiker aus den europäischen Chef-Etagen waren tatsächlich bestürzt, was ihnen niemand wird absprechen wollen. Was verstört und beunruhigt, ist, dass das Gefühl, im Lager der Guten zu sein, anscheinend von einer zutreffenden Analyse wie einer den Zuständen begegneten Politik exkulpiert.

Umgehend ist die Diktion der Politik, die wieder einmal 1:1 von den öffentlich-rechtlichen, staatlichen, monopolistischen Medien übernommen wurde, dass das Übel bei den Schleppern liegt. Damit ist der Fall für die Handelnden besiegelt und alles, was sich nun als Konsequenz aus der Katastrophe ableiten lässt, ist eine Fahndung nach den Schleppern und keine Forschung nach der Ursache, erstens, warum Menschen massenhaft flüchten und zweitens, warum sie sich Schleusern anvertrauen, um in Länder zu kommen, die sie als sicher für Leib und Leben definieren.

Diese Fragestellungen sind alt und von deutscher Seite systematisch vor einer Beantwortung bewahrt worden. Die Fortsetzung dieser Politik der Tabuisierung wird noch schlimmere Verhältnisse nach sich ziehen, als diese heute noch harmlosen bereits offiziell dargestellt werden. Dabei ist die Beantwortung dieser Fragen sehr einfach: Erstens existieren in den Ländern, aus denen Flüchtlinge stammen, Verhältnisse, die die dortigen Menschen bedrohen und nicht befriedigen. Die wichtigste Frage dabei ist, inwieweit Länder wie die Bundesrepublik dafür verantwortlich zu machen sind, Länder bewusst destabilisiert zu haben. In Syrien war sie es nicht, auf dem Balkan hingegen die treibende Kraft. Zweitens sollte es möglich sein, legal einzureisen und sofort einen Antrag zu stellen. Solange das nicht geht, wird es einen Markt für Schleuser geben. Die Parole, nun mit aller Macht die Schleuser zu jagen, aber ansonsten alles so zu belassen, wie es ist, reiht sich ein in das allgemeine Programm der Absurditäten. Und drittens sollte es möglich sein, zu definieren, welche Menschen die Bundesrepublik besonders gerne hier begrüßen würde, weil Menschen mit ihren Fähigkeiten und Potenzialen hier fehlen. Selbst derartig einfache und plausible Überlegungen sind Akteueren fremd, die allen Ernstes glauben, die Kürzung von 4 Euro 86 Taschengeld pro Tag für Asylsuchende würde diese davon abhalten können, aus der Hölle von Aleppo zu fliehen.