Eine der großen Visionen unserer Tage definiert sich über Interkulturalität. Damit steht ein Begriff in der Landschaft, der durch seine bloße Existenz große Illusionen herstellt, die mit ihm selbst gar nicht zu realisieren sind. Das Bild von Interkulturalität ist nämlich keine reale Komposition, sondern die Existenz des Nebeneinanders, des sich vielleicht auch gegenseitigen Durchdringens, aber nicht die Möglichkeit der Simultanität. Eine Gesellschaft, die sich multikulturell nennt, bietet die Lebens- und Existenzmöglichkeit für verschiedene, unterschiedliche Kulturen, ohne andere um dieser Möglichkeit willen zu diskriminieren. Allein dieses ist schon sehr selten, denn die gleichzeitige Existenz verschiedener Kulturen auf gleichem Raum ist in der Regel verbunden mit Momenten der Diskriminierung.
Multikulturalität an sich ist jedoch nicht der Zustand kultureller Konkordanz, also einer einträchtigen gemeinsamen Existenz, sondern schlicht und einfach eine Kompetenz. Multikulturalität als Kompetenz bedeutet, die wesentlichen Merkmale der anwesenden Kulturen bestimmen zu können und in der Lage zu sein, zwischen diesen zu vermitteln. Die gleichzeitige Existenz verschiedener Kulturen erfordert diese Kompetenz, um die diskriminatorischen Elemente, die jeder Kultur innewohnen, im Prozess des Zusammenlebens zu minimieren. Multikulturalität ist die Moderation zwischen unterschiedlichen humanen Systemen, ohne zu werten.
Das, was landläufig als Multikulturaliät bezeichnet wird, ist das genaue Gegenteil dessen, was es eigentlich bedeutet. Mit Multikulturalität wird der Zustand eines friedlichen, synergetischen Nebeneinanders beschrieben, das durch die gleichzeitige Existenz verschiedener Kulturen auf gleichem Raum entsteht. Dass es zum Wesen einer Kultur gehört, anderes auszugrenzen, um eine eigene Entität zu gewinnen, wird dabei ebenso ausgeblendet wie die Gewissheit um die Notwendigkeit professioneller Moderation.
In der jüngeren Historie wird der Begriff von Multikulturalität zumeist in Form von hiesigen Kulturprojekten oder sinnesbetäubender Stadtteilfeste gesehen. Multilkultiuralität als Ursache von kriegerischen Konflikten werden in dieses Bild nicht mit aufgenommen. Die verheerendsten kriegerischen Auseinandersetzungen unserer Tage sind jedoch immer mit dem Stigma existierender, schlecht moderierter Multikulturalität verbunden. Daher ist es hilfreich, sich nicht die so schönen Stadtteilfeste anzuschauen, sondern die Konflikte in Syrien, im Jemen, in der Türkei, im Sudan, in Myanmar. Diese Konflikte sind weit genug weg, um nicht in den Bann der Trübung zu fallen, die hier existiert, vor allem durch das Mantra eines Idealzustandes, der unterstellt wird, obwohl er nirgends existiert.
Die Negativzeichnung ist im kognitiven Prozess ein wichtiger Schritt. Sie vermittelt Kenntnisse darüber, welche Muster zu welchen Reaktionen führen. Und in diesen Negativzeichnungen ist zu lesen, dass die Dominanz einer Kultur nicht die Ursache missglückter Interkulturalität ist, sondern die aggressive Ablehnung jeglicher anderen Kultur, der Wille, auf Kosten anderer zu expandieren und der Unwille, sich aufgrund sozialer Anforderungen selbst einzuschränken.
Es ist geraten, sich von der Illusion zu befreien, es existierte auch nur eine Kultur, die nicht durch die Negation des anderen entstanden wäre. Und es ist geraten, sich die Bedingungen anzusehen, die erforderlich sind, um zu einer Konkordanz unterschiedlichen Kulturen zu kommen. Es handelt sich dabei nämlich nicht um einen Katalog der freien Entfaltung, sondern um eine Liste von Einschränkungen der eigenen Kultur, die die gleichzeitige Existenz vieler anderer Kulturen beinhaltet.
Und es wäre sinnvoll, sich von der Dramaturgie deutscher Kulturbesoffenheit etwas zu entfernen und vielleicht öfters von unterschiedlichen Zivilisationen zu sprechen. Das minimiert das Risiko einer strukturellen Karambolage.
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Hat dies auf fibeamter rebloggt und kommentierte:
Es gibt keine deutsche Leitkultur, sondern das Deutsche ist bereits auch multikulturell. Hierzu eine Glosse aus „Deutschland, deine Schwaben“. Ein Norddeutscher verklagte vor einem württembergischen Gericht einen Schwaben wegen Beleidigung durch den“schwäbischen Gruß“ aus Götz von Berlichingen. Auf die Frage des Richters,ob er noch wisse, in welchem Tonfall dieser Gruß
fiel, musste der Kläger passen. Die Klage wurde daraufhin abgewiesen, da dieser Gruß im schwäbischen verschieden, sogar als Begrüßung oder erstaunter Ausruf verwendet werde.