Es klingt kurios, aber so funktioniert die Realität. Thomas L. Friedman, Kolumnist der New York Times mit Kultstatus und weltweit erfolgreicher Buchautor (The World Is Flat) hat diesem Umstand sogar ein ganzes Buch gewidmet. Er hält das Thema für so wichtig, dass er ihm zutraut, dass mit ihm sein letztes Buch überhaupt befasst ist. Es handelt von der Herausforderung unserer Zeit schlechthin, es handelt von der Beschleunigung. Beschleunigung in Technologie, Beschleunigung im Welthandel, Klimawandel und Beschleunigung im Sinne sozialer Strukturen. Das ist das große Thema unserer Tage. Kann der Mensch in dem Orkan der Beschleunigung überhaupt noch bestehen?
Friedman schreibt in seinem Vorwort darüber und wählt ein sehr schönes Bild. Er erzählt von dem Gefühl, das ein Autofahrer beim Kickdown hat, wenn das Vehikel quasi nach vorne springt und seine Macht in der Vorwärtsbewegung zeigt. Und nun, so Friedman, stellen Sie sich vor, diese Bewegung und dieses Gefühl bleiben und es entsteht daraus ein Dauerzustand. Das Ergebnis lässt sich anhand des Bildes sehr gut beschreiben: es kommt sehr schnell zu einem unkontrollierbaren Tempo und zu permanenter Übelkeit. Dieses auf unseren gesellschaftlich-kulturellen Zustand angewendet sagt sehr vieles aus über die Situation, in der wir uns befinden.
Wenn das Tempo unkontrollierbar ist und das Dauerempfinden Übelkeit, dann ist es nahezu menschlich, was wir in allen Sparten der Gesellschaft erleben und was uns so oft in die Verzweiflung treibt: Die ganze Orientierungslosigkeit, die ganze Konzeptlosigkeit, die Hetze, die Unfähigkeit, sich auf etwas zu fokussieren, die Panik und das Gefühl der Unrast. Es gab zwar historisch bereits Phasen, die ähnliches erlebten und hervorbrachten, wie die Industrialisierung einherging mit dem epidemisch verbreiteten Gefühl der Neurasthenie, der Unrast, die sich zu einer Epochenkrankheit mauserte. Heute jedoch ist es wesentlich schlimmer mit allem, mit dem Tempo, mit dem Grad der Veränderung, mit der Orientierungslosigkeit.
Vielleicht ist es ratsam, sich die Vehemenz des Augenblickes vor Augen zu führen, bevor über diejenigen geurteilt wird, die diesem Druck nicht mehr gewachsen sind und nach Erleichterung suchen. Technologisch, ökonomisch, ökologisch und sozial ist das, was früher eine Generation der Gattung auszuhalten hatte, heute auf weniger als in Jahrzehnt geschrumpft. Die sozialen Erfahrungen als der Fundus, aus dem der homo sapiens am meisten zu lernen in der Lage ist, schrumpft genauso schnell wie das notwendige Veränderungswissen anschwillt. Es geht, wie wir aus der Hirnforschung mittlerweile wissen, aber wem es nicht gelingt, seine Hirnzellen wie Muskeln zu trainieren, der steht sehr schnell im Kuriositätenkabinett und wird von einer geschichtslos dumpfen Masse als Anachronismus verhöhnt.
Wichtig scheint zu sein, sich nicht auf intergalaktische falsche Fährten setzen zu lassen, sondern dort zu bleiben, wo das tatsächliche Leben stattfindet. Das macht Friedman übrigens sehr überzeugend in seinem Buch. Er erzählt davon, dass er viele seiner Interview-Partner gerne in Hotels zum Frühstück trifft, um das Angenehme mit dem Nützlichen zu verbinden. Und jedes Mal, wenn seine Verabredung nicht rechtzeitig erscheint, genießt er die Zeit, um sich mit Dingen auseinanderzusetzen, die sonst keine Beachtung finden. Das beginnt bei der Beobachtung der Umgebung und kann bis zur Reflexion von Geschichten gehen, die im Bewusstsein präsent sind. Es geht um Kontemplation und Reflexion, den aussterbenden Refugien des menschlichen Geistes in der Epoche der Beschleunigung.
Die Begrüßung der Zuspätkommenden durch den Autor, Thank you für being late, bringt es auf den Punkt. Die Dysfunktionalität des Systems kreiert die Chancen.
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Risiko als Chance … sehr schön. Passt zur Sichtweise, dass die Welt nur als gefiltertes Abbild in unserem Kopf existiert – wenn wir perfekt wären dann wären wir skalierbar wie Computer.
Interessanterweise sitze ich eben alleine und pünktlich bei einem Termin (leider ohne Frühstück) und warte. Verbringe die Zeit mit Blogbeiträgen lesen und aus dem Fenster starren. Letzteres ist interessant, ich sehe Stadtteile und Wälder, solitäre Häuser, burgähnliche Wohn- oder Teilzeitverweilblöcke, alles leicht gepudert im fahlen auf Schnee wartenden Nachmittagslicht. Es läuft die Klimaanlage ist und den Aufzug hört man. Leise Stimmen, unaufgeregt, fast angenehm. Doch die einlullende Ruhe ist trügerisch. Was man nicht sieht, ist das innere Brodeln auf dem Weg zum Erreichen des Tagesziels. Es hat keinen Aus-Knopf. Ein Zahnrad im Geflecht, eingebettet in unendlich viele Zahnräder. Wird schon einer anschieben. Show must go on.
Und die Rauchwolke löst sich vom Kamin und verteilt sich am Horizont.
Tolle Prosa!
Die Situation kenne ich, brilliant beschrieben! Wenn man nicht zufällig Vertriebler ist, dann ist das Tagesziel hoffentlich weniger bedrohlich? Ich genieße diese Auszeiten regelrecht! Der Schrecken kein WLAN oder gar Mobilephone-Empfang zu haben, misst sich im Millisekundenbereich;-)
Dagegen genieße ich die digitalen Auszeiten in der realen Welt, in der ich etwa zwei Drittel meines Lebens verbracht habe, so ganz ohne das Gefühl etwas vermisst, oder verpasst zu haben…
Da diese Zeiten sich heute, in der Praxis in schönen Urlaubsgegenden mit praller Natur abspielen, vermisse ich den digitalen Zirkus in diesen Momenten noch weniger.
Man vergisst manchmal, dass man auch mal nachlassen kann. Und darf. Das mit dem Tagesziel ist so eine Sache, das gibt es ja schon jeden Tag, denn man beendet den Tag auch, irgendwie. Und nein, kein Vertriebler, es ging um einen abgestimmten Termin zur Entscheidungsfindung, mal grob formuliert. Im Ergebnis müssen wir nun nachsitzen. Was aber auch sein Gutes hat, denn die Probleme sind rechtzeitig erkannt. Aber was kann ich aus der Pause mitnehmen? Vielleicht dies: ich ging entspannter an die Themen ran. Klarer im Geist, geordneter, zielorientierter, vielleicht sogar kreativer.
Die Zeit wird es zeigen.
Ansonsten: wenn mir einer vor 20 Jahren gesagt hätte, wie mein Arbeitsalltag heute aussieht, ich würde mich heute noch lachen hören…
Das klingt beneidenswert! Ich war zeitweise so eng getaktet, daß ich Verspätungsbedingte Verzögerungen als Afront gewertet und manchmal entsprechend aggressiv reagiert habe…
Hat dies auf fibeamter rebloggt und kommentierte:
Diese Gedanken zeigt eine alte Geschichte. Bei einer Safari hielten die Träger plötzlich an. Als der Leiter fragte, warum sie halten, sagten diese: Unsere Seele muss noch nachkommen. Nachahmen!