Archiv für den Monat Mai 2018

Bereits im Reich des Bösen

John le Carré oder Frederick Forsyth hätten ihre wahre Freude daran gehabt. Da wird ein dem Heimatregime gegenüber kritischer Journalist in einer lupenreinen Nachbardemokratie angeblich im Auftrag seines Landes dahin gemeuchelt und die Nachricht erschüttert die Welt, spontane Traueraktionen finden statt, Staatsoberhäupter kondolieren, ohne zu vergessen, die Tat auf das Schärfste zu verurteilen, und am Tag drauf erscheint der Besagte quicklebendig auf einer vom Geheimdienst einberufenen Pressekonferenz seines Asyllandes und erklärt dem staunenden Publikum, der Mord sei inszeniert gewesen, um den geplanten Mord zu verhindern. So erzählt in einem Roman, erschiene die Story doch etwas zu frivol, als sei sie aus der Feder eines Meisters. Es sei denn, es käme eine Erklärung nach, die den ganzen Wahnsinn erhellte. Le Carré oder Forsyth wäre bestimmt etwas eingefallen, um auf dem Feld der Fiktion für Furore zu sorgen. Was die politische Realität anbetrifft, scheinen wir es mit einer Verrohung zu tun zu haben, die in hohem Maße besorgniserregend ist.

Der Fall Babtschenko ist nun die dritte chevalereske Episode in kurzer Zeit, die belegt, dass wir in eine Epoche eingetreten sind, in der Psychopathen die Regie übernommen haben. Der Fall Skripal in London, der Giftgasangriff im syrischen Douma und nun der ermordete Journalist in Kiew, in allen drei Fällen liegen keine hinreichenden Beweise für das Behauptete vor, nur eines ist sicher: Es wird eine Propaganda gegen Russland aufgebaut, die keiner Beweise mehr bedarf und die sich in wilden Spekulationen ergießen darf. Das Fatale an der ganzen Angelegenheit ist nur, dass diejenigen, die für diese Schauergeschichten verantwortlich sind, anscheinend aus dem gleichen Holz geschnitten sind wie diejenigen, die damit angeklagt werden sollen. Dass der russische Staat nicht diejenigen, die gegen ihn operieren, mit Glacéhandschuhen anfasst, ist sicherlich kein Geheimnis. Dass diejenigen, die sich ausgeben als Vertreter einer überlegenen Wertegemeinschaft sich in den gleichen Arsenalen bedienen, ist neu. Und die Nonchalance, mit der die neueste Eskapade in den hiesigen Medien kommentiert wird, deutet darauf hin, dass die Toleranz gegenüber der abgeschmacktesten Propaganda gewachsen ist. Wir leben bereits im Reich des Bösen.

Immer wieder tauchen Stimmen auf, die davor warnen, trotz aller Gegensätze dürfe keine unüberwindbare Verwerfung mit Russland entstehen. Aber wie, so stellt sich die Frage, soll das verhindert werden, wenn toleriert wird, dass der Geheimdienst einer befreundeten Gurkendemokratie ohne ernsthafte Sanktionen ein Stück aufführt, wie das des Journalisten (?) Babtschenko. Wenn derartige Laiendarsteller aus der Spionagekolportage noch Journalisten genannt werden, die die Opposition in Russland repräsentieren, dann stellt sich doch tatsächlich die Frage, was dort als seriöse Opposition bezeichnet wird? Sind das Hasardeure wie Babtschenko? Oder existieren vielleicht noch andere, die hier nicht erwähnt werden, weil sie nicht dazu beitragen, Russland zu dämonisieren?

Wir müssen uns darauf gefasst machen, dass die Inszenierung einer anti-russischen Propaganda weiterhin in der besagten Form eskaliert, solange nicht hier, in der etablierten Meinungsindustrie, irgendwann der Gedanke aufkommt, dass der verbale Irrationalismus sehr schnell zu kriegerischem Irrationalismus ausarten kann. Reden wir nicht von Werten. Maß und Verstand, Grundlagen einer jeden Zivilisation, verlieren in unseren eigenen Reihen immer mehr an Bedeutung. Da braucht sich niemand mehr über irgendwen zu erheben. Ob die Talsohle erreicht ist, kann bezweifelt werden.

Zeit und Raum

Mit welcher Agenda Menschen in die existenziellen Phasen ihres Daseins gehen, hängt in starkem Maße von ihrer vorherigen Prägung ab. Da kann es passieren, dass gut erzogene, ausgebildete Individuen dennoch scheitern, weil der Kodex ihrer Prägung dennoch nicht mehr dem entspricht, was die Zeit von ihnen erfordert. Beispiele davon hat jeder von uns. Und zwar tausende. Denn wir leben in Zeiten, die sich rasch verändern und es geschehen Dinge, auf die wir keinen Einfluss haben. Den meisten Menschen fällt es schwer, durch diese wirren Zeiten mit einem Kompass zu fahren, der ihnen Sicherheit gibt. Denn vieles von dem, was sie erlernten, hat keinen Wert mehr und manches von dem, mit dem sie konfrontiert werden, ergibt beim besten Willen keinen Sinn. 

Wer geprägt ist von dem Anspruch, selbst etwas gestalten zu wollen, ist in einer Welt, in der vieles als das erscheint, was als die normative Kraft des Faktischen gilt, nicht besonders willkommen. Denn in dieser Welt, in der die Fakten des Lebens sehr oft als gesetzt gelten, ist nicht Gestaltung, sondern Anpassung gefragt. Das Allerhöchste, was man in dieser Konstellation nach erwarten kann, ist die Gestaltung der Anpassung. Deshalb ist es nicht übertrieben zu sagen, dass wir in Zeiten des Darwinismus leben. Und zwar in doppeltem Sinne. Zum einen geht es um existenzielle Anpassung, zum anderen um das, was historisch als Sozialdarwinismus genannt wurde. Nicht nur, um bei Darwin selbst zu bleiben, um das Überleben der Anpassungsfähigsten, sondern auch um das Überleben derer, die die besten Mittel und Voraussetzungen haben, um das zu tun. 

Die Digitalisierung wie der Marktliberalismus haben eine Phase der Beschleunigung hervorgerufen, in der es ums Überleben geht. Wer sich nicht anpassen will, hat bereits verloren. Und wer sich nicht anpassen kann, ebenfalls. Die Frage, die sich stellt, ist die, in welchen Prozessen überhaupt noch das geschehen kann, was allgemein die Bezeichnung der Gestaltung verdient. Orientierungslos sind viele geworden, und irregeleitet leider auch. Denn nichts hilft in einer solchen Situation so wenig, wie das Festhalten an alten Vorstellungen, die dazu verhelfen sollen, das Fortschreiten der Existenz aufzuhalten und zurück in alte Zeiten zu holen. Allen, die sich dieser Phantasie verschreiben, sei eines mit auf den Weg gegeben: das weitreichendste, was sie dabei erschaffen können, ist die Zerstörung dessen, was selbst von der rasenden Veränderung bedroht ist, nämlich die letzten Residuen des Gemeinwesens. Denn die Verwerfung ist kein Boden, auf dem Neues entstehen kann.

Es ist immer ratsam, sich auf die Felder der Philosophie zu begeben, um in Situationen, in denen vieles nicht mehr zusammenpasst, Orientierung zu gewinnen. Ein Begriffspaar, in dem es immer um die Existenz geht, ist das von Zeit und Raum. Genau betrachtet dreht sich unser gesamtes Dasein um dieses Paar. Und die Frage, die sich daraus ganz praktisch ableiten lässt ist die, ob wir für Herausforderungen, für die wir uns entscheiden wollen, der Raum da ist, um etwas zu bewegen und die Zeit verfügbar ist, um dieses vernünftig zu tun. Das alleine ist eine hervorragende Orientierung. Denn wenn weder Raum noch Zeit vorliegen, dann ist jede investierte Energie eine verlorene. Ist beides vorhanden, dann wäre es eine Unterlassung, sich nicht mir dieser Frage der Existenz aktiv zu befassen.