Chemnitz und der Casino-Kapitalismus

Bitte nicht die alten Rituale! Bitte jetzt keine Empörung, die in der Selbstbestätigung haften bleibt. Das hatten wir alles schon. Nach Rostock, nach Hoyerswerda und und und. Die Phänomene sind die gleichen geblieben, Hass ist umgeschlagen in Gewalt, und getroffen hat es diejenigen, die am wenigsten für alles konnten, was die anderen bedrückte. Und dennoch: die moralische Empörung mag einigen Halt geben, politisch verändern wird sie nichts. Noch immer wird von Humanität und Menschenrechten geredet, als seien das sakrale, museale Werte, die irgendwo entstehen und die die guten Menschen bewahren mögen. 

Nein, Menschenrechte sind den Treibern schrecklich egal, die ihre Geld- und Machtpolitik weltweit durchsetzen und immer mehr Orte auf unserem Planeten verwüsten. Die Epoche des Wirtschaftsliberalismus hat die Weltwirtschaft in eine sich wandelnde Koalition von Individuen verwandelt, die Märkte und Ressourcen unter sich aufteilen. Tatsächlich sind die Nationalstaaten im Niedergang, aber nicht, wie manche glauben, zugunsten höherer Institutionen wie Staatengemeinschaften, nein, sondern im Sinne von Milliardären, die mit der Welt Roulette spielen. Es ist die Zeit des Casino-Kapitalismus. 

Stellen wir uns vor, dass der spontane Unmut, zum Beispiel in Chemnitz, dort, wo die Büste von Karl Marx stehen geblieben ist, dass dort dieser Unmut nicht die Formen des rassistischen Ressentiments, sondern tatsächlich politische Dimensionen angenommen hätte. Stellen wir uns vor, der Unmut hätte sich nicht gegen irgendwelche armen Seelen aus der Karibik oder dem Nahen Osten gerichtet, sondern gegen die USA und Großbritannien, die im Syrienkrieg den Islamischen Staat unterstützten, gegen die Bundesregierung, die bei jedem dieser Regime-Change-Szenarien die Klappe hält und auch noch Technik liefert, oder der Unmut hätte sich gerichtet gegen die militärische Präsenz in Afghanistan, bei der es um Seltene Erden geht und der gewollten Instabilität, damit der Iran und Russland auf Distanz bleiben. 

Stellen wir uns vor, der Protest ginge gegen den Wahn der Regierung, Überschüsse zu erwirtschaften, auf Kosten von Infrastruktur und Bildung, auf Kosten von Gesundheit und Altersversorgung. Stellen wir uns vor, wir hätten eine Opposition, die diesem, dem berechtigten Unmut eine Stimme gäbe, was dann passierte in diesem Land. Dann wäre mit einem Schlag dieser grausame Sommer der rechten Populisten genauso schnell vorüber wie das ewige Taktieren einer Regierung, der es vor allem darum geht, so sozialverträglich wie möglich den gesamten politischen Diskurs in das ewige, nichts sagende Gerede zu verwandeln, vor das allen graut.

Schlüge der Protest in politische Qualität um, wäre vieles wieder möglich. Möglich im Sinne einer konstruktiven Neugestaltung. Letztere ist jedoch nur von Menschen zu gestalten, die sich nicht abgenutzt haben in einem politischen System, in dem der ganze Unfug des Wirtschaftsliberalismus und der damit einher gehenden Entstaatlichung stattgefunden haben. Und eine tatsächliche Umgestaltung kann auch nicht stattfinden mit einem Weltbild, wie wir es alle immer noch in den Köpfen haben.

Zu diesem Weltbild gehört die Illusion, der glorreiche Status eines Exportweltmeisters habe nichts zu tun mit der Zerstörung der Welt und der massenhaften Vertreibung von Menschen aus ihren angestammten Lebensverhältnissen. So viel Wahrheit muss da schon sein. Das Umdenken hinsichtlich der eigenen Gesellschaft ist der Schlüssel zu neuen Perspektiven. Die Schurken auszumachen, die momentan die Welt unter sich aufteilen, das ist jedoch der erste Schritt. Stellen wir uns nur vor, die Wut mündete nicht in Hass Verzweifelter, sondern wir hätten es mit einer politischen Haltung Unzufriedener zu tun. 

18 Gedanken zu „Chemnitz und der Casino-Kapitalismus

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  2. sunflower22a

    Vorstellen kannst du dir vieles. Aber wie kommst du dahin? Natürlich, diese Selbstbestätigungs-Rituale sind sinnlos. Dennoch: irgendwie muss man diese Nazi-Horden stoppen, und du kannst nicht warten bis der Casino-Kapitalismus überwunden ist.

    1. Gerhard Mersmann Autor

      Beiletzterem geht es darum, dass der Staat seinen Aufgaben nachkommt und Kriminelle in die Verantwortung nimmt. Das wird ve4hindert durch Politiker, die taktieren, statt ihren Job zu machen. Sie sind genauso gefährlich wie die Irren, die ihr Unwesen treiben. Der Druck auf die Politik muss steigen, und zwar mit einer Argumentation, die die tatsächlichen Zusammenhänge aufzeigt.

  3. Achim Spengler

    Die Glatzen und Stiernacken haben kein Problem mit dem Wirtschaftsliberalismus. Denen geht es gut, diese hasszerfressenen Idioten haben Arbeit. Also bitte ein wenig trennschärfer. Mit denen werde ich mich nicht an einem Protest beteiligen, der zu mehr politischer Qualität zurückkehren könnte. Auch nicht mit denen, die sich in Chemnitz brav eingereiht haben, den Schulterschluss suchten und ihren Arm mit Müh und Not unter Kontrolle hielten, bevor er stramm erhoben wurde. Möge mir auch keiner erzählen wollen, dass Fremdenfeindlichkeit ausschließlich eine genuine Begleiterscheinung des Globalismus sei. Wenn wir Verantwortlichkeit immer nur in den Niederungen der Politik und ihrer Institutionen suchen, sie nur als Ausfluß anonymer globaler Organisationen begreifen, zu selten aber in den Köpfen derer, in denen sie aus anderen Gründen gebricht, haben wir ein Problem.

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  5. Clara Himmelhoch

    Mich verlässt leider das Gefühl nicht, dass solche Exzesse vom Staat mit einem rechten blinden Auge nicht ganz ungern gesehen werden, weil sie eben von den eigenen echten Problemen ablenken.
    Wären Hunderttausende neutrale friedliche Bürger wirklich bereit, sich an Demonstrationen gegen die Ungerechtigkeiten im eigenen Land (Mieten, Renten, Arbeitslosigkeit und und und) und gegen die politischen Schweinereien im Ausland zu beteiligen – dann wette ich meinen Lieblingslöwen, dass dann das vier- bis fünffache Aufgebot an Polizei zur Verfügung stünde.
    Ich finde, es ist ein Unding, dass in einem Bundesland so unendlich viele rechtsextremistische Untaten passiert sind und so unendlich wenige Täter gefasst und bestraft wurden. Hätte man immer wirklich gleich und sofort zugegriffen und verurteilt, müsste das Land langsam extremistenfrei sein – egal, welcher Couleur.
    Ich habe der DDR nicht über den Weg getraut in ihrer politischen Haltung, aber der Bundesrepublik vertraue ich auch zunehmend weniger.
    Dennoch vielen Dank für diesen so wenig aufgeregten Artikel.

  6. ann christina

    Danke für diesen klugen Artikel, der mir aus der Seele spricht. Nur was kann man dagegen tun, dass die meisten deiner (ich denke wahren) Problembeschreibungen von den gesitteten Medien und der „gesitteten“ Politik (also nicht AfD) als Verschwörungstheorien gebrandmarkt werden? Werden diese Zusammenhänge in den Medien, z.B. in Talkshows, formuliert – meist von Politikern der Linken oder, leider, der AfD – dann werden sie als extremistisch und verschwörungstheoretisch verunglimpft. Oder es werden alle als unrealistische Träumer hingestellt, die diese Zustände gerne verändern würden oder auf sie hinweisen… Es ist zum Heulen, so traurig… Es macht einem Angst, wenn man sich vorstellt, wohin all das führen kann.

  7. Peter Klopp

    Hier im fernen Kanada hören wir sehr wenig von den erschreckenden Ereignissen in Deutschland. Und doch sollte es uns alle angehen, leben wir doch alle auf demselben Planeten.

  8. fredoo

    Ein feiner Artikel … der mir jedoch in einem Punkt missfällt , leider leider weil es eine zentrale blinde Stelle der auch distanziert bleibenden Nüchternen betrifft .
    Es ist die beiläufige Formulierung , die Eintreffenden betreffend , “ die da vertrieben werden“ …

  9. fredoo

    Niemand von denen wurde „vertrieben“ …
    Die da tatsächlich vertrieben werden , sind gar nicht mehr reisefähig !
    Wer da jedoch hier angekommt , ist ( in Mehrheit) von GIER ge-trieben und nicht vertrieben .
    Der durchaus mitlerweile wohlhabende Mittelstand Afrikas und des Nahen Osten finanziert mit bis zu 10.000 Dollar pro sehnsuchtsvollen Entsandten aus höchst eigennützigen Interessen ( eigene Altersversorgung ) die Beutereise der im eigenen Land überflüssigen und chancenlosen zweiten und dritten Söhne ins gelobte Europa …
    Da weiterhin als Europäer , so wie nebenbei , von Flucht und Vertreibung zu schreiben , ist mir eine überhaupt nicht mehr lässliche Verfehlung des Diskurses.
    Es sind in großer Mehrheit GIERIGE . Punkt . Und als solche sollten sie behandelt werden. Punkt . In unserem eigenen Überlebensinteresse … Und nicht zuletzt auch im Interesse derer , die tatsächlich in Not sind !!! und unsere Hilfe vor Ort (!) bedürfen … Eine potentielle Hilfe , die aber mit 90 Milliarden hier in Deutschland an die falschen vergeudet wird . Und (!) dazu noch gravierend die Hilfspotenz dieses Landes zu zerstören beginnt .

  10. Bludgeon

    Good bye left side! Good bye right side! Der Kampf gegen rechts bzw. links ist die Möhre, die dem Volksesel vorgehalten wird, damit er dahin läuft, wo er hin soll. Mittelmäßige Parteien wählen, die ununterscheidbar geworden nur noch Fussnotendiskürs-chen führen und das dann als Reform verkaufen. Trümpfe haben die keine mehr im Ärmel, da brauchts ein grelles Feindbild für den Zusammenhalt.
    „Wenn die Wertediskussion beginnt, sollte man den Raum verlassen“ (Egon Bahr SPD) Der Moral-Amok, der sich gerade über Chemnitz ergießt, obwohl dort klassisch eine Mücke medial zum Elefanten gemacht wurde, bringt wieder reihenweise Leute gegen eine Demokratie auf, der nichts mehr einfällt als – die Toten Hosen vorbeizuschicken.

  11. Pingback: Hommage an die Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit/ A tribute to liberty, equality and fraternity* | da sein im Netz

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