Wehmut und Zorn

Christopher Hitchens, der leider zu früh verstorbene britische Journalist, den es nach Washington getrieben hatte, um den Marionettenspielern im Weltgeschehen direkt auf die Finger schauen und manchmal hauen zu können, beschreibt in seinen angesichts der schweren Krankheit verfassten Memoiren eine Situation, die weit zurück liegt, aber seiner Meinung nach entscheidend war. Es war die späten siebziger oder frühen achtziger Jahre des letzten Jahrhunderts auf einer Versammlung im damaligen London, als eine Teilnehmerin aufstand und berichtete, woher sie kam und wie schwer ihr Leben bis dahin gewesen sei. Dann setzte sie sich und erhielt Applaus. 

Hitchens war Teilnehmer dieser Versammlung und wunderte sich. Das hatte es noch nie gegeben. Normalerweise meldeten sich die Leute, gaben etwas zum besten, und je nach Qualität des Beitrages erhielten sie Zustimmung oder auch nicht. Nun reichte es scheinbar, zu erzählen, wer man war, und die Versammlung hatte bereits Anlass zur Bewertung. Hitchens schrieb dazu ganz lapidar, in diesem Moment hätte er gewusst, dass sich im Westen fundamental etwas geändert hätte.

Heute, zumindest bei politischen Veranstaltungen, ist das, worüber Hitchens damals stolperte, eine Regelerscheinung. Es genügt, zu erzählen, wer man ist, und je nachdem, je schwerer das Schicksal, desto größer die Aussicht auf Erfolg. Schlechte Beiträge werden oft goutiert, weil sie von einem schwer Beladenen vorgetragen werden und gute Beiträge haben manchmal keine Chance, weil sie jemand vorbringt, der keine sichtbare Benachteiligung als Referenz aufweisen kann. 

Das, was in diesem Kontext zu beobachten ist, kann durchaus als ein Paradigmenwechsel von  der Tat zum Sein bezeichnet werden. Zumindest spitzt diese Gegenüberstellung das Problem zu. Um es deutlich zu sagen: Wir waren schon einmal weiter. Die Reduzierung des Fokus auf einen Katalog der Benachteiligung und das Ausblenden tatsächlicher Leistung hat den Gesellschaften, in denen sich diese Gegenüberstellung zum Massenphänomen ausgewachsen hat, zu einer Lähmung geführt, die jegliche Form der Veränderung unmöglich gemacht hat. 

Statt die Ursachen von Benachteiligung zu bekämpfen, haben sich diese Gesellschaften darauf kapriziert, immer mehr Gesetze zu verabschieden, die die Benachteiligung zwar verbieten, gleichzeitig werden jedoch die Quellen der Diskriminierung mächtig gespeist. Denn letztendlich ist es Macht und Besitz und deren Verteilung auf der Welt, die darüber bestimmen, wie es sich verhält mit den Menschenrechten und ihrer Realität. Bei genauem Hinschauen wird deutlich, dass gerade die eifrigsten Regierungen, die sich mit Gesetzesinitiativen gegen die Diskriminierung wenden, den Faktoren Macht und Besitz einen immer größeren Freiraum bieten.

Verlierer dieser Entwicklung ist die Tat. Denn darum dreht sich kaum noch etwas. Die Debattenkultur hat sich verloren in einer Reflexion über Befindlichkeiten und nicht in einem Nachsinnen über praktische Schritte der Gestaltung. Veränderung braucht Aktion. Das Räsonnement über Zustände führt immer zu einem noch schlechteren Gemütszustand, wenn es keine Praktischen Folgen hat. Je öfter beklagt wird, wie schlecht die Welt ist, ohne sie zu verändern, desto wehmütiger werden alle Beteiligten. 

Wehmut als politische Größe ist fatal und Brennstoff für den Defätismus. Wenn schon, dann sollte es Wut sein. Dort, wo die Zorndepots voll sind, verändert sich die Welt. Nicht das Sein an sich spendet Orientierung, sondern das Sein, wie es sein sollte. Das wussten schon die Schüler Hegels. 

7 Gedanken zu „Wehmut und Zorn

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  2. Nitya

    „Nicht das Sein an sich spendet Orientierung, sondern das Sein, wie es sein sollte. Das wussten schon die Schüler Hegels.“

    Lieber Gerd, ich möchte dir gerne hier widersprechen.
    Die ewigen Jammerlappen tun doch nichts anderes als zu beklagen, dass das Sein nicht so ist, wie es ihrer Ansicht nach sein sollte. Und auch der erste Teil deines Satzes findet nicht meine Zustimmung. Stell dir vor, ich habe Zahnschmerzen. Ich kann mich ins Bett legen, die Vorhänge zuziehen und meinen elenden Zustand beklagen. Folge, die Zahnschmerzen nehmen zu, weil sich der Zustand etwa der entzündeten Zahnwurzel sich zunehmend verschlechtert. Wenn ich das mit meiner Winselei bleiben lasse, komme ich vielleicht auf die glorreiche Idee, einen Zahnarzt aufzusuchen. Ich gehe also in die Aktion, die den bedauerlichen Zustand verbessern kann.
    Ausgangsbasis für beide Haltungen ist also die Orientierung am Sein an sich. Wie damit umgegangen wird, macht den entscheidenden Unterschied. Um zum Zahnarzt zu gehen, benötige ich übrigens nicht einmal die Emotion des Zornes. Ein bisschen Grips ist da vielleicht hilfreicher.

  3. Alice Wunder

    Völlig natürliche Erscheinung im fortschreitenden Alter. Alte – Menschen oder Gesellschaften – definieren sich nun mal durch ererbten Namen und erworbene Gebrechen.

    1. fibeamter

      Ich habe ein Gegenbeispiel. Die Petitionen zu Verfassungsbeschwerden etc. von Frau Grimmenstein auf change. org. Bei der letzten Petition hat sie 380.000 Unterstützer erreicht.
      Durch meine Webseite wurde sie auch auf meine Petition -Bundesstaat Europa – aufmerksam und bot mir Zusammenarbeit an. Diese besteht nun seit Anfang Dezember 2018. Auch gehöre ich zu den 8000 Personen, die sich ihrer Verfassungsbeschwerde angeschlossen haben. Es stimmt, dass ein Großteil der Bürger denkt: Wozu soll ich etwas tun,ich kann doch nichts ändern. Aber andere engagieren sich., z.B. in Bürgerbewegungen wie Stopp TTIP‘

  4. Bludgeon

    Nunja. Ich habe mich inzwischen dran gewöhnt, dass sich der Zeitgeist verändert hat. Die frühen 80er kommen nicht zurück. Dafür bräuchte es auch einen real-existierenden gesellschaftlichen Gegenentwurf. Und der sozialistische war nun – nicht sooooo perfekt, um es gelinde auszudrücken.Der chinesische ist es ebensowenig. Der Westbevölkerung ging es jedoch den Umständen entsprechend gut, solange das Gespenst des „Kommunismus“ in der Welt war. Auch wenn es sich nur um die sozialistische Vorstufe handelte, die nicht weiterkam.

    Was heute bleibt sind vereinzelte Abwehrhaltungen gegen dies und das – aber der große Alternativplan fehlt. Wie sollte es denn besser gehen? Wie die Globalisierung rückgängig gemacht werden? Oder die Übervölkerung des Planeten? Oder diese verheerende Gen-Panscherei in den Frankensteinlabors dieser Welt? Also weiter wie bisher auf die Klippe zu.

    Mir wurde in den 90ern bewusst, dass sich was ungut änderte, als ich gewahr wurde, dass in TV-Galas nicht mehr nur bei besonderen Leistungen zum Applaudieren aufgestanden wird, sondern dass das Publikum für jeden Scheiß bereit ist, stehend zu klatschen.

    1. fibeamter

      Kleine Korrektur , ein Tippfehler. Letzter Stand von mir zur Petiton von Frau Grimmenstein waren 38.000, inzwischen sind es nun 78.000 Unterschriften. Im Text eine 0 zuviel.

    2. fibeamter

      Zu Bludgeon: In eienr Medienschulung erlebte ich einmal einen Film mit tosendem Beifall für eine Rede mit Allgemeinplätzen. Ich fragt den Leiter: Haben die Leute wirklich so geklatscht.
      Gegenfrage von ihm Haben Sie im Film gesehen, ob die Leute geklatscht haben? Leicht verdutzt musst eich veneine. Nch eineAntwort aus dem Filmmuseum Frnakfurt: Die wichtigste Person bei allen Filmen, auch in den Nachrichten ist die Cutterin!!

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