George Floyd und das feuilletonistische Getöse

Christopher Hitchens, einer der scharfzüngigsten und unbestechlichsten Journalisten des letzten Jahrhunderts, beschrieb eine Situation Ende der 1970ger Jahre auf einer politischen Versammlung in London. Es ging um irgendeinen Misstand, der beseitigt werden sollte und man wollte beraten, was zu tun sei, um das Ziel zu erreichen. Dann, mitten in der Diskussion, meldete sich eine Frau zu Wort, die aufstand und ihre eigene Identität beschrieb und die vielen Diskriminierungen und Erschwernisse in ihrer Biographie aufzählte. Als sie damit fertig war, setzte sie sich wieder und erhielt für ihren Beitrag brausenden Applaus. Hitchens folgerte, dass ihm in diesem Moment bewusst geworden war, wie etwas in die völlig falsche Richtung lief.

Obwohl der Begriff in der Politik damals nicht gebräuchlich war, wurde Hitchens Zeuge der Geburtsstunde der Viktimisierung. Es ging plötzlich nicht mehr um Leistung, sondern um Leidensgeschichte. Alle Menschen wurden zum Opfer und viele begannen, in ihre Biographien zu leuchten, um Schmähungen und Diskriminierungen zu finden. Da das in der Welt, in der wir leben, nicht schwer ist, lag nach kurzer Zeit reichlich Material auf dem Tisch. Denn Diskriminierung und Opfer gab und gibt es überall. Zu welchen Schlussfolgerungen das führte? Zu keinen! 

Es reichte fortan, sich in das kollektive Lamento um die Schlechtigkeit der Welt einzureihen und sich dabei selbst noch als Opfer zu fühlen. Praktische Folgerungen? Keine! Die Viktimisierungswelle, die bereits seit vier Jahrzehnten anhält, leitete den kollektiven Niedergang aller demokratischen und Widerstandsbewegungen ein. Und es spricht für die Straße, d.h. die rohe Erfahrung darin, was Diskriminierung wirklich heißt, dass sie ihre Verachtung für die Schwachen in ihren Reihen mit einem Wort beschreiben, das als Extrakt der politischen Viktimisierung gelten kann: Du Opfer!

Wenn etwas bergab geht, dann entwickelt es eine Gravitationskraft, die ansteckend ist. Die politische Passivität, die aus der Viktimisierung resultierte, ermöglichte noch eine andere fatale Entwicklung. Es ging darum, sich auf das Sprachliche exklusiv zu fokussieren. Gemeint ist das, was als politische Korrektheit in die Annalen des gebrochenen Widerstandes eingehen wird. Man begann, jede Diskriminierung, die man natürlich beklagte, beseitigen zu wollen, indem man ihren sprachlichen Ausdruck tilgte. Aus Negern wurden Schwarze, aus Schwarzen wurden Farbige, aus Farbigen, zumindest auf dem amerikanischen Kontinent, Afroamerikaner. Und, schlagen Sie bitte die heutige Zeitung auf und lesen Sie, was es bewirkt hat! Hat sich etwas geändert? Ist der Rassismus besiegt? Hat die Sprachakrobatik etwas dazu beigetragen, dass die schlimmsten Wurzeln des Übels ausgerissen sind?

Wer die Welt, in der er oder sie lebt, verändern will, muss sich Gedanken machen über die Ursachen des Veränderungswunsches, er oder sie muss sich bewusst werden darüber, was zu tun ist, um die Ursachen zu beseitigen und er oder sie muss sich darüber Gedanken machen, was werden soll. Das sind die logischen, folgerichtigen Schritte jeder konstruktiven Veränderung. Alles andere, vor allem die Viktimisierung und die Sprachakrobatik, führen, für sich alleine, zu nichts, außer vielleicht einem kollektiven Lamento.

Das Unbehagen mit Verhältnissen, die Ungerechtigkeit und Unterdrückung mit sich bringen, können nicht verändert werden, indem man sich heißblütig streitet über die korrekte Benennung von Kakaogetränken. Betrachten wir es als das, was es ist: eine Ersatzhandlung, die die politische Passivität kaschiert. Und die Wortführer in diesen fruchtlosen Diskursen, dieser Seitenhieb sei erlaubt, sind Papiertiger im wahren Sinne des Wortes. Oder hat dieses ganze feuilletonistische Getöse einem George Floyd jemals geholfen?

2 Gedanken zu „George Floyd und das feuilletonistische Getöse

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