1990/91: Das kollektive Gedächtnis meldet sich zurück

James Addison Baker III, seinerseits us-amerikanischer Außenminister unter George Bush sen., war während der großen Umbrüche Europas in den Jahren 1990/91 in der Verantwortung.  Er erlebte die deutsche Wiedervereinigung ebenso wie den Zusammenbruch der Sowjetunion. Während er die Wiedervereinigung Deutschlands vorbehaltlos unterstützte und dabei wohl an eine gemeinsame Euphorie in beiden Teilen des Landes glaubte, regten sich bei ihm große Zweifel, ob die Ereignisse in Russland nicht eine Quelle in sich bargen, die noch größere Verwerfungen hervorbringen werden könnten. Er sprach davon, dass die Demütigungen, die mit dem Untergang der Sowjetunion einhergingen, nicht in einer gerechneten Generation dazu beitragen könnten, dass alle jene, die die Schmach als junge Menschen erlebten, nach von ihm bezifferten dreißig bis vierzig Jahren denen die Rechnung präsentieren könnten, die ohne Rücksicht auf Verluste den alten Staat abgewickelt hätten. Das bezog er sowohl auf die Kräfte innerhalb des Landes als auch auf jene, die als fremde Mächte daran beteiligt waren.

Soviel auch in Deutschland davon die Rede war, wie sehr die Menschen in Ostdeutschland unter dem System der DDR gelitten hatten, in Bezug auf die Art und Weise, wie das, was viele als ihre Lebensleistung auch innerhalb des Systems bezeichnet hatten, war keinerlei Empathie vorhanden. Heute, dreißig Jahre danach, zeigt sich mit voller Wucht, dass zumindest im deutschen Westen niemand die Weitsicht eines James Addison Baker III besessen hatte. Zum jetzigen dreißigjährigen Jubiläum werden wieder einmal Zahlen genannt. Vor allem die dreieinhalb Milliarden Euro getätigten Investitionen, die vor allem aus den Sozialsystemen des Westens bestritten wurden – auch das eine Aktivität, die noch zur Geltung kommen wird – werden stolz präsentiert, um die Demütigungen, die mit der Abwicklung nahezu der gesamten Industrie aufgerechnet wurden, als irrelevant abzutun. Was sich da seit einigen Jahren im Osten Deutschlands regt, scheint doch genau das zu sein, was James Addison Baker III in Bezug auf die Sowjetunion gemeint hatte.

In Russland selbst war der Zusammenbruch mit einem Ausverkauf des gesamten Volkseigentums einher gegangen. Unter der Bezeichnung Oligarchen waren mit rabiaten, kriminellen Mitteln die Werte aufgeteilt worden, die als staatliches Eigentum zu bezeichnen sind. Da ging es nicht nur um die Zugriffsrechte auf Ressourcen, sondern auch um Wohnungen und, so niedrig sie auch sein mochten, Sozialsysteme. Die Folge war Massenarmut bis hin zum Hunger. Auch wenn diesem Treiben bereits seit dem ersten Jahrzehnt des neuen Jahrtausends ein Ende bereitet wurde, was im Westen dazu geführt hat, dass seitdem ein neues Feindbild Russland entstanden ist, ist die Schmach von 1991 bis heute unvergessen. Die Worte Putins, dass der Zusammenbruch der Sowjetunion für viele Russen ein traumatisches Ereignis gewesen sei, haben im Westen zu sehr viel Spott geführt. Sie korrespondieren allerdings mit den klugen Betrachtungen des damaligen us-amerikanischen Außenministers.

In Russland wie in Ostdeutschland scheint es zumindest so zu sein, wie von James Addison Baker III prognostiziert. Ihm ging es nicht darum, das Rad der Geschichte zurückzudrehen. Es war ihm allerdings ein Anliegen, die emotionale Befindlichkeit der Menschen, die in dem jeweiligen, historisch am Ende stehenden Systems bei den Maßnahmen einer neuen Epoche zu berücksichtigen. Er selbst war danach nicht mehr lange Außenminister und die USA wie die westdeutschen Politiker haben seine Mahnungen in den Wind geschlagen. Sie wären besser beraten gewesen, auf sie zu hören. Sowohl in Ostdeutschland wie in Russland melden sich die damals jungen Menschen heute zu Wort und geben laut und deutlich zu verstehen, dass sie nichts vergessen haben. Anscheinend ist das kollektive Gedächtnis doch stärker als buchhalterische Zahlenkolonnen.

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