„Wer nicht so denkt wie ich, ist irre!“

Wer nicht so denkt wie ich oder meine soziale Bezugsgruppe, ist irre. Diese Vorstellung ist die häufig zu beobachtende, wenn man sich alles ansieht, was unter den Überschriften Öffentlicher Diskurs oder Soziale Netzwerke anschaut. Alles, was als Schlussfolgerung daraus resultiert, hat mit dem Wesen von Demokratie nichts zu tun. Die Pathologisierung des Gegners ist ein Signum totalitärer Systeme. Und ein weiteres Indiz für diesen kulturellen Verfall ist die Tatsache, dass diese Ausgrenzung gesellschaftlich weder erkannt noch beklagt wird. Selbst die Hinweise auf die – freundlich formuliert – Unfähigkeit, unterschiedliche Interessen und Sichtweisen in einem offenen Diskurs ertragen zu können, gelten ihrerseits als unerträglich. Wer das unternimmt, gilt bereits als Feind und erhält Etikettierungen, die aus dem Arsenal des Unsäglichen stammen. Die Uniformität bestimmt, wie die Welt auszusehen hat. 

Es führt längst nicht mehr weit genug, die Zustände zu beschreiben und zu beklagen, sondern es ist an der Zeit, nach den Ursachen zu forschen und sich an die Schaffung von Verhältnissen zu machen, die an die Grundideen individueller Autonomie und kollektiver Verantwortung heranreichen. Und es ist offensichtlich, dass die Individualisierung, die das Stadium der Atomisierung bereits erreicht hat, ein wesentlicher Faktor bei der Befriedung des autonomen Bürgersinns geworden ist. Wer sich nur noch in seiner emotionalen, individuellen Befindlichkeit spiegelt, kommt nicht mehr auf den Gedanken, dass das eigene Schicksal von Bedingungen abhängt, die nur in Gemeinschaft hergestellt werden können. Dass ihm Meinungsmaschinen, die treffend als Instrumente der Herrschaft bezeichnet werden müssen, den Weg zu diesen Gedanken nicht weisen wollen und können, ist eine logische Folge der sie betreffenden Besitzverhältnisse und keine emanzipatorische Energie mehr wert. 

Der große Erzieher, zumindest in unseren Breitengraden, während des auch unsere Tage vorbereitenden und prägenden 20. Jahrhunderts waren nicht nur die Elternhäuser und Schulen, sondern auch die flächendeckenden industriellen Prozesse. Spätestens in den Fabriken wurde gelernt, was es bedeutet, Organisationsprinzipien einzuhalten, Prioritäten zu setzen, sich als Individuum mit dem Kollektiv abzustimmen und aufeinander angewiesen zu sein. Mit dem zunehmenden Wegfall dieser wirkungsvollen, aber nicht institutionellen Lehranstalten drifteten die Individuen ab nicht nur in die eigene Segmentierung, sondern auch in eine vom Neoliberalismus geprägte Ideologie der eigenen Ausschließlichkeit. Dieser Geist ist der herrschende und er führt, in letzter Instanz, zu der Vorstellung der eigenen Exklusivität und der Minderwertigkeit von Andersartigkeit. Die sich immer faschistoider gebärdende Ideologie des Wokeness ist die perfekte Kaschierung des Wunsches nach eigener Dominanz.

Bei den beschriebenen Tendenzen handelt es sich es sich übrigens um eine kulturelles Phänomen des Westens, der, im Vergleich zu anderen Weltkulturen und den aus ihnen resultierenden Produktionsweisen wie Regierungsformen, ungefähr ein Zehntel der Weltpopulation ausmacht. Bei der Kritik an der Atomisierung des Individuums und dem Verlust des Gemeinsinns handelt es sich also nicht um eine Klage über den Zustand der Menschheit und ihrer Verkehrsformen, sondern um eine Klage über die Befindlichkeit des Westens. Und, so lehren die Ideologen der herrschenden Zustände, es geht nicht um die Adaption anderer Kulturen, was sich in plumpen Fragestellungen äußern würde, ob man denn lieber in China oder sogar Russland leben würde, sondern um Lösungsansätze, die nicht in den klar umrissenen Feldern von Schwarz und Weiß liegen. 

Alle, die nicht so denken wie wir, sind nicht irre. Wer diesem Trugschluss weiterhin anhängt, dem wird die Geschichte mit Sicherheit nicht helfen.

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4 Gedanken zu „„Wer nicht so denkt wie ich, ist irre!“

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  2. meertau

    Wiedermal ein aufatmen meinerseits, wenn ich bei Ihnen reinlese und mich über Ihre Zeilen freue und die Anregungen, die sie enthalten

  3. Alice Wunder

    Ich fürchte, meine Hoffnung oder Sympathie ist schon atomisiert zerstoben und ich denke ernsthaft darüber nach, wo und wie ich irgendwo im asiatischen Zentrum der Zivilisation weiterexistieren kann.
    Westeuropa kann sich geschmeichelt fühlen, wenn die Amerikaner die Gegend noch als Atomtestgelände endverbrauchen, um ihren Frust über die verlorene Weltmachtstellung wegzubomben.

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