Ein brandaktueller Polit-Krimi aus der Weimarer Republik

Leonhard F. Seidl, Vom Untergang. Kriminalroman

Jenseits der zeitgenössischen Romanliteratur, die sich selbstvergessen in der Widerspiegelung eigener Befindlichkeiten verliert, existieren auch bemerkenswerte Versuche, massive Ladungen von Denkstoff über kurzweilige Transportmittel in die Fläche zu senden. Zu diesen zählt auch der bei der unerschütterlichen Edition Nautilus erschienene Kriminalroman von Leonhard F. Seidl. So verwunderlich das Genre, so mächtig der Stoff: in seinem Roman „Vom Untergang“ geht es um Geschichte, um Politik und die Frage, ob es historische Analogien gibt und ob aus der Geschichte gelernt werden kann. Dass das Buch im März 2022 erschienen ist, gibt ihm eine unbegreiflich erscheinende Aktualität. Letztere soll jedoch nicht jene Leserinnen und Leser davon abhalten, die einfach einen etwas anspruchsvolleren Kriminalroman aufschlagen und mit etwas Nervenkitzel gut unterhalten werden wollen.

Die Geschichte spielt im fränkischen Fürth im Jahr 1922 und vieles von dem, was dort thematisiert wird, ist historisch verbürgt. Es geht dort, anhand eines lokalen Vorfalls, um das, was die Weimarer Republik in Atem gehalten hat und sie letztendlich hat sterben lassen: Um die Strategien von sozialdarwinistisch geprägten Figuren wie den berüchtigten Theoretiker Oswald Spengler, der mit seinem „Untergang des Abendlandes“ als Kassandra wie als Visionär galt, um die Industriellen wie Presseleute, die finanzierten und Meinung machten, es ging um ebenso finanzierte Geheimbünde, die selbst vor Mord nicht haltmachen, es geht um eine organisierte, aber gespaltene Arbeiterschaft und um deren Lebensbedingungen und Kämpfe.  Verwoben ist das alles in konkrete soziale Beziehungen, die daraus eine spannende Geschichte machen.

Auf drei verschiedenen Ebenen wird die Erzählung gestaltet. Auf der der fortschreitenden Handlung der Erzählung selbst, auf der Darstellung der Ereignisse in der Presse und auf der Folie von Spenglers „philosophischen“ Betrachtungen und seinen Korrespondenzen mit den Dunkelmännern der bereits in diesen Jahren geplanten Machtergreifung. Dennoch entwickelt sich eine spannungsgeladene Handlung, die weder stört, noch aufgesetzt erscheint. Insofern ist ein Stück Kriminalliteratur entstanden, das mit dieser engen Verwicklung in die zeitgenössische Politik eher im angelsächsischen ( z.B. Robert Harris) als im deutschen Raum zuhause ist. Und da das Konstrukt als gelungen angesehen werden muss, zählt dieses Buch zu den sehr positiven Überraschungen hinsichtlich der gegenwärtig in Deutschland produzierten Literatur.

Und diejenigen, die sich besonders auf die politische Folie freuen, werden aufgrund der Passagen, die aus Oswald Spenglers „Untergang des Abendlandes“ in einem bestimmten Handlungskontext zitiert werden aus dem Staunen nicht mehr herauskommen. Denn vieles von dem, was sich dort offenbart, vor allem in den Segmenten der gesellschaftlichen Meinungsbildung, kommt einem vor wie exakte Beschreibung der heutigen Realität. Das, wozu ein Spengler noch nationalistische Dunkelmänner benötigte, um die Realität so zu verarbeiten, damit sie in die Ideologie passte, hat sich hier und heute zu einer fertigen Zustandsbeschreibung entwickelt, ganz ohne Gewalt und Willkür, sondern durch einen schleichenden Prozess der Anteilsübernahmen, durch die Modifikation der journalistischen Techniken und durch die Art der existierenden Beschäftigungsverhältnisse. 

„Vom Untergang“ ist ein gelungenes Wortspiel mit Spenglers Buchtitel und dem Schicksal der Weimarer Republik. Was sich als Rettungsunternehmen gebärdete, hat den tatsächlichen Untergang rasant beschleunigt. Und dass es historische Analogien zuhauf gibt, sorgt für eine ganz besondere Brisanz! Mehr Spannung geht nicht, und es handelt sich ja ein Kriminalroman!

  • Herausgeber  :  Edition Nautilus GmbH; Originalveröffentlichung Edition (14. März 2022)
  • Sprache  :  Deutsch
  • Broschiert  :  248 Seiten
  • ISBN-10  :  3960542844
  • ISBN-13  :  978-3960542841
  • Abmessungen  :  20.4 x 2.3 x 12.2 cm