Ein Buchtitel verrät die Misere. Der Roman Dostojewskis, der vom Original übersetzt „Verbrechen und Strafe“ als Titel hat, wurde auch in allen Sprachen so übersetzt, nur nicht für die deutsche Ausgabe. Dort machte man daraus bekanntlich „Schuld und Sühne“. In der Hoffnung, versteht sich, dass sich das Buch dann besser verkaufen ließe. Diese Hoffnung basiert auf der Einschätzung der Verleger, wie die Psyche des Lesepublikums funktioniert. Das Schwülstig-Emotionale liegt anscheinend dem deutschen Publikum. Erst Jahrzehnte später erschien Dostojewskis Roman auch im Deutschen unter dem ursprünglichen Titel. Schuld und Sühne jedoch sind Konstanten in der hiesigen Denkweise geblieben.
Angewendet auf alle historischen Ereignisse, die im 20. und im beginnenden 21. Jahrhundert in Deutschland stattgefunden haben, lässt sich beobachten, dass die positiven Geschehnisse in der Regel weniger registriert und eher als eine Petitesse abgetan werden, während die negativen Ereignisse auf eine sonderbare verarbeitet werden. Das, was eigentlich auf der Hand liegen müsste, nämlich nach tatsächlichen Ursachen und Triebkräften zu suchen, Fehlentscheidungen zu diagnostizieren und, in günstigem Fall, daraus Lehren für die Zukunft zu ziehen, ging es zumeist um die Ausweisung von Schuldigen. Damit, so glaubt das immer wieder fehlgeleitete Publikum, wäre die Schuldigkeit (sic!) getan und man könne zur Tagesordnung übergehen, und, wie sollte es anders sein, den gleichen Handlungsmustern zu folgen, die zu der Malaise geführt hatten.
Da war von vaterlandslosen Gesellen die Rede, die den Dolch in den Rücken der Nation stießen, da wimmelte es von Novemberverbrechern, von Spaltern, von fünften Kolonnen, von Agenten des Feindes, von Appeasement-Politikern, von schäbigen Pazifisten. In der letzten Krise, die in ihrem Ausmaß sehr viel mit der vorherigen Privatisierung großer Teile des Gesundheitswesen und mit politischen Fehlentscheidungen zu tun hatte, die unverhältnismäßig waren, standen zum Schluss für all das die Ungeimpften am Pranger. Und nun, da auch in Europa einmal wieder ein heißer Krieg tobt, der aus dem Kampf imperialistischer Großmächte resultiert und das eigene Land in eine hoch prekäre gebracht hat, sind es Putin-Versteher, wieder einmal dessen fünfte Kolonnen und Lumpen-Pazifisten, die als Schuldige für alles, was da noch kommen wird, über dessen Ausmaße sich noch viele Illusionen machen, verantwortlich gemacht werden. Same old Story: nicht die Gründe für – vielleicht auch – ein kollektives Versagen werden ausgemacht, sondern das bewährte Muster der Schuldzuweisung ausgepackt. Wäre man zynisch, so könnte man auch sagen, wer so dumm ist, der hat es nicht anders verdient.
Es ist an der Zeit, denn vielleicht bleibt uns ja nicht mehr viel, wofür einiges spricht, damit zu beginnen, Klartext zu reden. Lange Zeit konnte man gut verweilen unter dem amerikanischen Schirm, und viel, wenn nicht gar alle schienen zu glauben, dass Onkel Sam nicht irgendwann dafür einen Preis auf die Tafel schreiben würde. Jetzt steht er dort geschrieben, und er bedeutet, zu fressen mit der geringen Chance auf das nackte Überleben oder den sofortigen Tod. Diejenigen, die jetzt die amerikanischen Weltmachtansprüche unerwähnt lassen und allein, wieder einmal, die Schuld beim bösen Russen suchen, haben sich für die erste Option entscheiden. Das ist mutlos und ohne jede Selbstachtung. Dass dem dann postwendend die Präsentation neuer Schuldiger folgen wird, ist bereits zu erleben. Der Knecht ist und bleibt ein feiger Hund. Das aber mit Verve.
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