Der Westen?

Ganz so einfach ist es denn doch nicht, wenn der „Westen“ von und über sich redet. Was die Länder, die sich hinter diesem Schild verbergen, eint, sind eine gemeinsame Geschichte, die nicht frei von Konflikten und Kriegen war, eine, im Gegensatz zu anderen Weltkulturen, relativ analoge Entwicklung von Handel und Produktivkräften und daraus mehr oder weniger resultierenden Verfassungen, die in dem jeweiligen Rahmen bestimmte Freiheiten garantierten, die notwendig waren, um das System mit Leben zu füllen. Der Rest sind Interessenkonflikte, die es in sich hatten. Das bezieht sich auf die heute in der EU versammelten Staaten, aber auch auf  Großbritannien, das sich immer und zu Recht als nicht kontinental fühlte und die USA, ihrerseits eine zivilisatorische Auslagerung des alten Europas, quasi als Neustart auf der grünen Wiese. Nicht mitgerechnet wird heute Russland, das zumindest seit Peter dem Großen immer vitaler Bestandteil Europas war und sein wollte.

Dass sich mit der Sowjetunion in dieser Hinsicht sehr viel änderte, weil sich damit ein Konkurrenzsystem zu dem etablierte, was als die gemeinsame europäische Geschichte mit einer kapitalistischen Produktionsweise bezeichnet werden kann, versteht sich nahezu von selbst. Auch dreißig Jahre nach dem Zusammenbruch der über siebzig Jahre währenden Sowjetunion ist dieser Schmerz in den westlichen Zentren immer noch zu spüren. Auch er erklärt das von negativen Emotionen beflügelte Handeln gegenüber dem heutigen Russland, dem, egal in welcher der jüngsten historischen Phasen, trotz gehöriger Avancen immer wieder und drastisch bedeutet wurde, dass es nicht dazugehören darf. So eskalierte vieles, und zu einer zumindest möglichen Form der Koexistenz und Balance kam es nicht. 

Die Motive der Staaten, die sich unter dem Firmenschild des Westens immer noch versammeln, könnten allerdings unterschiedlicher nicht sein. Das Reklamieren der gemeinsamen Wertegemeinschaft durch hohe Funktionäre und Lobbyisten, ist ein Narrativ, das längst verbraucht ist. Jenseits des gemeinsamen Marktes, was haben die baltischen Staaten mit Spanien, Portugal oder Italien hinsichtlich ihrer Sicherheitsvorstellungen und -Interessen gemein? Welche Motive treiben Belgien, die Niederlande und Luxemburg im Gegensatz zu denen Frankreichs an? Welche Herangehensweise haben die südosteuropäischen Staaten? Und Ungarn oder Polen? Ganz zu schweigen von Großbritannien, den USA und letztendlich Deutschland?

Allein der flüchtige Blick verrät die unterschiedlichen Interessen, die aus der Historie erwachsenen unterschiedlichen Gefühle, der Ängste wie der Freundschaften. Wer da meint, mit einem plakativen „Wir“ sicher durch eine historisch hoch prekäre Lage navigieren zu können, kann es sich leichter nicht machen und kann nicht verantwortungsloser handeln.

Unter dem mit großem Kriegsgeschrei deklamierten Slogan der westlichen Werte werden die Möglichkeiten einer auf Vernunft basierenden und an Interessen orientierten Politik verstellt. Es ist auch nicht Ziel derer, die so unumwunden und gierig in diesen Krieg gezogen sind und alles dafür tun, um ihn so lange wie möglich zu befeuern und am Leben zu halten. Wenn eines sicher ist, dann ihr Desinteresse an dem, was sie stets mit Werten bezeichnen und die in ihrem Munde entwertet werden. Ihnen geht es um gute Geschäfte, die so gut laufen wie nie.

Das historische Makel, das der Westen trotz der Aufklärung aufweist, nahezu im Sinne einer Tragödie, ist die immer vorhandene Diskrepanz zwischen ökonomischem Trieb und politischer Räson. Es existieren Zeiten, zumeist kurze, die als Blüte bezeichnet werden, in denen die Räson das Handeln bestimmt. Gefolgt von Perioden, in denen sich der Trieb auslebt und viele Entwicklungen beschleunigt und einiges zerstört. Beide Seiten gehören zusammen. Vor allem im Westen. Darüber sollten wir reden. Und über die unterschiedlichen Interessen, die das Handeln bestimmen. Ob die Welt – im Westen – dann besser wird, steht dahin. Aber sie wird verständlicher. Und das ist doch schon einmal etwas.  

Ein Gedanke zu „Der Westen?

  1. Pingback: Der Westen? | per5pektivenwechsel

Die Kommentarfunktion ist geschlossen.