60 Schüsse

Es wäre wieder einmal ein Leichtes, sich aufgrund eines weiteren Vorfalls polizeilicher Tollwütigkeit in den USA so richtig aufzuregen, zu protestieren und Dampf abzulassen, ohne selbst irgend etwas riskieren zu müssen. Anlass war die Tötung eines 25-Jährigen, dessen Hautfarbe nicht zu erwähnt werden braucht, weil es die Regel ist, der sich einer polizeilichen Kontrolle im Staate Ohio entziehen wollte und der kurz darauf als toter Korpus mit sechzig Schusswunden das hiesige Leben verlassen hatte. Die Anwendung des Wortes Unverhältnismäßigkeit wäre schon eine Perversion an sich, denn das, was sich mittlerweile als normale Meldungen in die Nachrichten unserer hiesigen Welt eingeschlichen hat, dokumentiert nichts anderes als den zivilisatorischen Verfall.

Dass die Wächterinnnen und Wächter von Moral und Wokeness in diesem Fall so ruhig bleiben, liegt an einem befriedigenden Feindbildersatz, der alles Amerikanische von vornherein exkulpiert und alles Russische in gleicherweise am liebsten vor ein Kriegsgericht stellen würde. So schnell kann es gehen, wenn man als eigener Staat eine Lektion in Sachen existierender Machtverhältnisse erteilt bekommen hat und weiß, dass die eigene Unabhängigkeit ein schöner Trug und die eigene Souveränität ein ferner Traum ist.

An der Tagesordnung wäre eine eindeutige und klare Formulierung, die festhielte, was in eigenem nationalen Interesse ist und was sich nicht deckt mit der einstigen Siegermacht, die immer noch mit nuklearem Geschirr präsent ist. Da steht man dann lieber wie Piefken Duli neben dem greisen demokratischen Kriegsgewinnler vor laufenden Kameras und bekommt vor aller Welt gesagt, dass jetzt Schluss ist mit russischem Gas. 

Dann geht man lieber nach Hause und macht den Starken, in dem man den Direktiven der transatlantischen Chefs das Wort redet und mit einem vehementen propagandistischen Geschrei denen, die vermeintlich am weitesten weg und daher am ungefährlichsten sind, so richtig den Marsch zu blasen. Das ist ist ein uraltes Muster, wer im und für das eigene Haus keine Courage aufweist, haut am Stammtisch so richtig auf die Pauke und schreit aus Leibeskräften die wildesten, blutrünstigsten Parolen in die Runde. Da fällt dann doch wieder nur eine amerikanische Wendung in den Sinn: wir haben es mit Hasenherzen zu tun,  die rennen werden, wenn es brenzlig wird. 

Derweil ist der tägliche Prozess zu etwas geworden, der den Terminus der Zivilisation durch den der Obszönität ersetzt. Nur zwei Tage nach dem Gemetzel in Ohio waren hier, im eigenen Land,  kurz vor der üblich gewordenen Zensur Bilder zu sehen, wie Polizisten im Norden unserer Republik ihre Schusswaffen zogen und feuerten, weil ein Bauer auf einem Traktor die Aufforderung anzuhalten nicht gehört hatte und weiterfuhr. Ob die Polizisten durch solche Geschichten wie aus den USA ermutigt wurden, bar jeden Verstandes erst einmal loszuballern, bleibt Spekulation. Der Trend jedoch ist deutlich: Ob in London oder Paris, auch in Europa fällt auf, dass zunehmend oft vor der Festnahme der gewaltsame Tod steht. Das ist die Abschaffung von Grundrechten durch die zynische, perverse, obszöne normative Kraft des Faktischen. 

Das sind die Perspektiven, mit denen sich eine Bevölkerung auseinanderzusetzen hat, die allmählich merkt, wie gefährlich das weitere Überleben geworden ist: Geführt von Hasenherzen, die immer auf die anderen zeigen, verlassen von einer Art inneren Moral der herrschenden Institutionen und demoralisiert durch immer mehr lebensnotwendige Geschäftsprozesse, die zunehmend nicht mehr funktionieren. 

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