„Zwietracht, Regel und Sanktion“ – eine neue Hymne?

Bräsigkeit, Unvermögen, Ideenlosigkeit oder maßlose Selbstüberschätzung – letztendlich ist es egal, aus welchem Grunde bei dieser WM ein Ritual nur dreimal aus deutscher Perspektive zu sehen und zu hören war. Das Abspielen und Absingen der Nationalhymne vor einem Spiel. Der Text, den man durch zahlreiche Anstrengungen zumindest den meisten Besuchern von Spielen der Nationalmannschaft beigebracht hat, scheint zu sitzen. „Einigkeit und Recht und Freiheit“ heißt es dort. Es sind gewichtige Sätze, die dem Grundverständnis eines neuen, demokratischen Staates entsprachen und das nach dem II. Weltkrieg ins Pflichtheft geschrieben wurde. Es handelt sich dabei um Prinzipien, die aus den Grundgedanken der bürgerlichen Revolution entwickelt wurden: Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit. Einer Revolution, nebenbei bemerkt, die in Deutschland nicht stattgefunden hat.

Es geht bei diesen Prinzipien schlichtweg um ein Staatsverständnis, das von selbstbewussten und freien Bürgern ausgeht, die durch ihren Staat dazu ermächtigt werden, das zu tun, was ihren Ideen, ihren Kenntnissen und Fähigkeiten und ihren Vorstellungen entspricht. Und es geht darum, aufgrund dieses Grundverständnisses ein Rahmenwerk zu schaffen, in dem das Rechtens ist, was Positives für die Menschen schafft und die Freiheit sichert. Das Recht ist die alles entscheidende Instanz, um die Freiheit zu sichern. 

Vielleicht sind diese in der Hymne so beschworenen Prinzipien deshalb nicht so in Fleisch und Blut übergegangen, weil es im kollektiven Gedächtnis nichts gibt, was das Revolutionäre dieses bürgerlichen Gedankenguts festgeschrieben hätte. Wäre dem so, dann hätte man nicht, wie ein verärgerter Nachbar es kürzlich formulierte, wegen eines Schnupfens ein Grundrecht nach dem anderen abräumen können. Wer hingegen einmal in Frankreich miterlebt hat, wie noch heute die Matrosen aus Marseille gefeiert werden, die bereit waren, für diese Prinzipien mit ihrem Leben zu bezahlen, weiß, wovon die Rede ist. Die Grundidee des Regierens im Sinne der Französischen Revolution war die Unterstützung des Citoyens, d.h. des freien und selbstbewussten Bürgers. 

Man kann sich darüber beklagen, dass die Verhältnisse so sind. Aber sie sind so, wie sie sind. Und deshalb ist es gar nicht so verwunderlich, dass auch in der anscheinend so modernen Bundesrepublik Deutschland nicht das Recht und die Freiheit im Mittelpunkt stehen, sondern sich im Laufe vor allem der letzten drei Jahrzehnte etwas eingeschlichen hat, was seinerseits durchaus auf eine lange Tradition in diesem Land verweisen kann. Mit der Hauptstadt Berlin erhielt diese Tradition eine neue Chance. Sie nennt sich der preußische Obrigkeitsstaat. Dort wurde davon ausgegangen, dass es einen die Gesellschaft beherrschenden und regelnden Staat gibt. Grundidee war die Unmündigkeit der Bürgerschaft, deren Handeln beaufsichtigt werden und durch ein Regelwerk eingehegt werden musste. Das Mantra der Regierungsführung war das Begriffspaar von Regel und Sanktion. Wer nicht spurt, bekommt die Knute.

Betrachtet man die Entwicklung der Bundesrepublik der letzten Jahrzehnte, so ist festzustellen, dass die hehren Worte aus der Hymne zu einer musealen Formulierung verkommen sind, weil sich der Gesetzgeber, sprich das Parlament, immer mehr mit der Rolle der Obrigkeit aus dem preußischen Bevormundungsstaat identifiziert hat. In großer Geschäftigkeit wurde ein Regelwerk geschaffen, dass sich vor allem mit dem Missbrauch beschäftigt. Das Vertrauen in eine selbstbewusste Bürgerschaft ist nicht gegeben. Stattdessen wird diese behandelt wie ein unmündiges Mündel, das man vor der eigenen Unfähigkeit und Unmäßigkeit bewahren muss. Außer Regel und Sanktion herrscht keine Vorstellung darüber, wie die Regierungsführung aussehen könnte. Dass sich die Gegängelten von diesem System der Regierungsführung nicht mehr repräsentiert sehen, ist eine nur logische Folge. 

Und, um es zu pointieren, kann man ja den Text der Hymne ändern und den gegenwärtigen Verhältnissen anpassen. Der müsste dann beginnen mit der Formulierung. „Zwietracht, Regel und Sanktion“. Klingt fürchterlich, oder?  

2 Gedanken zu „„Zwietracht, Regel und Sanktion“ – eine neue Hymne?

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  2. Bludgeon

    Eine neue Hymne? Wäre 1949 bereits auch für den Westen wünschenswert gewesen.
    Der Obrigkeitsstaat kehrt zurück? Nö.
    Das hat was mit dem Hauptstadtwechsel zu tun? Auch -nö.
    Es hat eher mit einem Wandel von „harten“ zu „weichen “ Themen zu tun.
    Und wer an dem schuld ist, das ist so ein Problem, wie mit Henne und Ei. Wer ist schuld? Träger und wohlhabender werdende Alt-Hippies oder Berufspolitiker aus dem Biedenkopf/Geisler-Lager?

    Als die breitgefächerte Linke des Westens sich für die „alternativen“ Themen engagierte, engagierte sie sich gleichzeitig nicht (mehr) für das, was früher Klassenkampf genannt wurde: Gewerkschaften, Lohnstreiks ? Demos gegen in Verruf geratene Politiker zur Rücktritterzwingung usw. Nebensache.
    Waldrettung, Feminismus, Stricken lernen als Mann … „irgendwie intressant jetz‘, du!“ – Gender was coming. The soft parade.
    Alles Nebenkriegsschauplätze – und der Wirtschaft kommts zu pass. Deshalb wird das zum Lifestyle gehyped. Die Betroffenen fühlen sich „viehisch progressiv“ – und aus Millionären können seelenruhig Milliardäre werden. Stört ja keinen mehr.
    Das politische Personal blutet aus. Da werden keine Macher mehr gebraucht. Und ob die eine oder andere Gurke mal zurücktreten sollte, interessiert nicht: Wir müssen ja über Armbinden streiten, über 3. Toiletten oder Indianerkostüme zum Fasching.
    „Gesetznovellen bringen die Lobbyisten zum Termin bereits abstimmungsfertig mit. Und die liest vorher auch keiner.“ (Wagenknecht bei Lanz) Die Klugen sind in der Wirtschaft. Das Joschka-Phänomen (Nur mit Fahrerlaubnis und sonst nichts in die Politkarriere) wurde Pandemie.

    Der Untergang von alten Kulturen hat viele Väter.
    Wir sind heute da angekommen, wo das Römische Reich ca. im 3. Jahrhundert n.Chr. war. Noch nicht weg, aber ein Schatten seiner selbst.

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