Vor nahezu einem Vierteljahrhundert traf ich im Aufsichtsgremium des Bildungsinstituts, an dem ich damals arbeitete, einen Mann, der dort in seiner Funktion als Vertreter einer Bank ein gewichtiges Wort mitzureden hatte. Er wurde vorgestellt als Bankdirektor, nennen wir ihn X. Es handelte sich um einen Mann in den so genannten besten Jahren, der sehr großen Wert auf sein Äußeres legte. Mit pechschwarzem Haar, das stets akkurat geschnitten und an der Seite wie ein Lineal gescheitelt war, stets in gut sitzende, maßgeschneiderte dunkelblaue Anzüge gehüllt, zuweilen auch mit einem dezenten Nadelstreifen, an der linken Hand eine goldene, fein gegliederte Uhr, an seiner rechten Hand einen ebenfalls in Gold gefaßten Siegelring, saß er am Tisch des Vorstandes. Im Habitus fein und gediegen, wirkte er dennoch sportlich, er war groß und schlank. Er zeichnete sich durch Zurückhaltung auf und obwohl keine Entscheidung ohne seine Zustimmung zustande gekommen wäre, machte er nie den Eindruck, als wollte er das Geschehen dominieren. Immer, wenn ein Entschluss im Raum stand, blickten die Akteure auf ihn, und wenn er fragend schaute, wurden die Optionen verändert, schlug er allerdings die Augenlider wohlwollend nach unten, dann war eine einstimmige Beschlussfassung gegeben.
Bankdirektor X. gab mir Rätsel auf. Er entsprach nicht dem Klischee eines Machtmenschen, der rücksichtslos seinen Willen durchsetzte. Mit wem der Beteiligten ich auch sprach, niemand hatte diesen Eindruck. Alle hatten waren der Ansicht, es handele sich um einen eher emphatischen Menschen, der stets auf Konsens aus war und das Wohl des Instituts im Auge hatte. Fachfragen überließ er den Fachleuten und mischte sich nicht ein. Wenn er denn einmal das Wort ergriff, dann nur, wenn er dazu aufgefordert wurde. Dann spielte er die finanziellen Auswirkungen der einzelnen Optionen durch, gab aber keine Empfehlung, obwohl klar war, dass er seinerseits Präferenzen hatte. Doch er gab die Macht der Entscheidung an das Gremium zurück, vielleicht gerade weil er wusste, dass seine Mimik letztendlich den Ausschlag geben würde.
Bei der Bewirtung hielt er sich immer zurück, wenn es hoch kam, verlangte er nach einem Glas Wasser. War die Sitzung beendet und wurde das Aprés zum Gedankenaustausch eröffnet, dankte er allen Beteiligten mit einem Handschlag, den er immer mit einem direkten, vertrauensbildenden Augenkontakt begleitete und bei dem er seinen Dank an die jeweilige Person aussprach, ein Dank für Leistung und Vertrauen. Dann verabschiedete er sich mit den Worten, sein Zeitplan sei eng getaktet und der nächst Termin warte. Und wie durch Gedankenübertragung hörte man im selben Augenblick, wie sein Fahrer unten im Hof die teure, schwarze Limousine anspringen ließ, um keinen Augenblick seines Chefs zu vergeuden. Dann entschwand Bankdirektor X. wie ein unbedeutender Statist aus dem Raum, ohne Inszenierung und ohne Tusch. In diesem Gremium genoss der Mann großen Respekt, menschliche Nähe kam jedoch nie zustande.
Als ich mich von dem Institut verabschiedete, um eine neue berufliche Herausforderung zu suchen, die mich schließlich in ein anderes Land verschlug, waren die Verhältnisse in dem Gremium so, wie beschrieben. Als ich nach einigen Jahren zurück in die Stadt kam, allerdings dann eine andere Wirkungsstätte fand, existierte das Institut in dieser Form nicht mehr. Was aus den einzelnen Akteuren geworden war, wusste ich nicht. Den einen oder anderen traf ich bei unterschiedlichen Gelegenheiten, den Bankdirektor X. sah ich nie wieder.
Letztens, 25 Jahre später, kam ein Mann im Zentrum der Stadt auf mich zu. Ich hatte gleich das Gefühl, dass ich ihn irgendwo schon einmal gesehen hatte. Der Mann war groß, etwas übergewichtig, er trug graues, nahezu weißes Haar, das wild in alle Richtungen wies. Er hatte einen etwas schleppenden, schwerfälligen Gang. Seine Kleidung bestand aus schlecht sitzenden, verwaschenen Jeans und einer Windjacke, die zu groß war und lose an dem mächtigen Körper hing. Sein Gesicht zeigte Verwüstungen auf, wie sie nur schwere Schicksalsschläge oder ein toxischer Lebensstil hinterlassen. Je näher er kam, desto konkreter wurde meine Ahnung. Und je näher er kam, desto mehr drängte sich mir der Eindruck einer nahenden Gefahr auf. Der große, schwere Mann wirkte wie eine angeschlagene, aber ungestüme Naturgewalt. Und dann, plötzlich, war es mir sonnenklar, es handelte sich um den ehemaligen Bankdirektor X.
Und wir fixierten uns. Wir blickten uns in die Augen und wußten von einander, wer wir waren. Die Augen des Mannes schickten mir eine Botschaft: „Ich weiß, wer du bist, und du weißt, wer ich bin. Dabei belassen wir es und alles ist gut.“ Was bleib mir anderes übrig, als das Angebot anzunehmen. Die Botschaft meines Blickes lautet folglich: „Ich habe Sie verstanden, ich wünsche Ihnen Glück.“ Durch die Beibehaltung durch mein nonverbales Sie wusste er, dass er sich auf mich verlassen konnte und sein Gesichtsausdruck entspannte sich ein wenig. Wir gingen grußlos aneinander vorbei.
Seitdem kreuzen sich manchmal unsere Wege im Getümmel der Fußgängerzone. Und jedesmal treffen sich wissend unsere Augenpaare, und zuweilen lächeln wir sogar.