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Von Welten, die auseinanderdriften

Es gab Zeiten, und die sind noch gar nicht solange her, da wurde von Parallelgesellschaften gesprochen. Gemeint waren damit Gemeinschaften von Immigranten, die so funktionierten, als lebten sie weiter in dem Land, aus dem sie gekommen waren. Quasi wie Inseln im hiesigen gesellschaftlichen Strom. Und Parallelgesellschaften, die es tatsächlich gab und gibt, wurden als ein Indiz für eine gescheiterte Integrationspolitik gewertet. Warum sowohl der Begriff als auch das damit beschriebene Problem in den Hintergrund getreten ist, lässt sich nur zum Teil beantworteten. Die wohl verbreitetste Antwort, die man erhielte, wenn man in die Runde fragt, wäre die, dass die großen Krisen, die sich seit dem Jahr 2008 die sprichwörtliche Klinke in die Hand gaben, vieles einfach überstrahlt und in den Hintergrund gedrängt haben.

Ganz sauber ist die Antwort natürlich nicht. Richtig ist, dass mit der Weltfinanzkrise aus dem Jahr 2008 die eigentliche Zeitenwende eingeleitet wurde. Die weltweite Dominanz des Dollars steht seitdem zur Disposition und solange das der Fall ist, wird sich noch einiges ereignen, was nicht ohne die Substantive Krise und Krieg auskommen wird. Aber, da wir uns im immer wieder kosmopolitisch gefühlten aber im tiefsten Innern provinziellen Deutschland befinden, sollte eine Aufreihung der Krisen, wie sie sich hier offenbarten, reichen: Weltfinanzkrise, erste Ukrainekrise, Flüchtlingskrise, Brexit, Covid, zweite Ukrainekrise. 

Das ist, um auch diese in der wundervollen deutschen Sprache möglichen Weise zu beschreiben, nicht von schlechten Eltern. Denn so aus dem Nichts kamen diese Ereignisse nicht. Sie waren das Ergebnis einer bewusst gewählten Politik. Die Weltfinanzkrise resultierte aus dem zugelassenen Hazardspiel an den Börsen, die erste wie die zweite Ukrainekrise ist das Ergebnis eines Junktims von EU- und NATO-Mitgliedschaft, die so genannte Flüchtlingskrise folgte den Kriegen in Syrien und Afghanistan, der Brexit war eine Folge der deutschen Reaktion auf die Flüchtlingskrise und bei Covid offenbarten sich die Auswirkungen der Ökonomisierung des Gesundheitswesens. Selbstverständlich reichen die angeführten Gründe nicht exklusiv aus, um alles zu erklären. Nur eines steht fest: die Krisen brachen nicht herein wie von höheren Gewalten ausgelöst, sondern sie waren das Resultat eigener Politikgestaltung.

Dieser Sachverhalt ist, und das ist das Erstaunliche, von einem Großteil der Bevölkerung erkannt worden. Erstaunlich deshalb, weil die gesamte mediale Verarbeitung dieser Krisen einem großen Rühren im Topf der Mystifikation gleicht. Da werden alle möglichen Narrative angeboten, die alle eine Zutat beinhalten, nämlich eine große Variation von Feindbildern. Mal sind es die faulen und korrupten Griechen, mal die bösen Russen und ihr Präsident, dann die bescheuerten Engländer oder die Verschwörungstheoretiker jeglicher Couleur. Dass Politik für die Resultate politischen Handelns verantwortlich gemacht würde, diese banale Erkenntnis gehört zu den Todsünden, die begangen werden können. 

Im Vergleich zu dem Anfangs angeführten Begriff der Parallelgesellschaft ist das beschriebene Phänomen eine ganz andere, bedeutend gefährlichere Kategorie. Es handelt sich nämlich um Parallelwelten, die sich herausgebildet haben. Diejenige, in der die politische Klasse und die Medien leben, und die Welt, wie sie vom Rest der Gesellschaft erlebt wird. Dort sieht man den Konnex von Politik und gesellschaftlicher Lebenswelt. Nur, und das ist das Explosive, dass das Problem der Parallelgesellschaft als Petitesse erscheinen lässt, existiert keine Sprache mehr, mit der dieses Missverhältnis kommuniziert werden kann. Obwohl das Vokabular das gleiche ist. Und es sind Welten, die immer weiter auseinanderdriften. 

Eurobakel: Die Verhältnisse auf den Kopf gestellt!

Bei der Betrachtung alter Gewissheiten muss konstatiert werden, dass nichts mehr so ist, wie es war. Eine Folge ist ein babylonisches Stimmengewirr, zumindest was den politischen Diskurs anbetrifft. Die Vorwürfe aus allen Lagern, die sich auf links oder rechts beziehen, bringen den hilflosen Versuch zum Vorschein, die alten Gewissheiten zurückzuholen. Doch es nützt nichts, die alten Koordinaten funktionieren nicht mehr. Da laufen als klassisch links bezeichnete Individuen über die Bühne, die nationalistischer und kriegsgeiler nicht sein können, da fangen alte Stalinisten an zu moralisieren, als befänden sie sich in einem Priesterseminar, da schwadronieren traditionelle Liberale von staatlicher Sanktionskunst und da erscheinen konservative und reaktionäre Kräfte und pochen auf urdemokratische Tugenden.

Wir reden hier von den Staaten, die sich in der EU versammelt haben, deren Sprecher täglich das große Loblied auf die konstitutionellen Demokratien singen und sich selbst eines regulatorischen, interventionistischen und die Souveränität einschränkenden Führungsstils schuldig gemacht haben. Dass da noch irgend etwas funktionieren sollte, das aus tiefer, innerer und demokratischer Überzeugung entsprösse, ist das Märchen, an das zunehmend niemand mehr glaubt.

Irgend etwas ist falsch gelaufen. Und, wenn man den verantwortlichen Akteuren glauben schenken will, ist das nicht das Ergebnis des eigenen Handelns, sondern immer das Werk anderer böser Kräfte. Mal ist es Russland, mal China oder es sind die Populisten, die im günstigsten Fall immer auf den Gehaltslisten der ersteren stehen. Zumindest mental gehören sie zum Feind. Dass diese Kräfte, die nun von Schweden bis Italien parlamentarische Mehrheiten bei unterschiedlicher Wahlbeteiligung erhalten, spricht dann wohl dafür, dass Putin und Konsorten über brillante Geheimdienste und exorbitant intelligente Propaganda verfügen. Anders wäre es aus der Logik des verantwortlichen Personals nicht zu erklären. 

Blickt man in die jüngste Vergangenheit, noch vor dem Krieg um die Ukraine, dann waren es noch britisch-insulare Schwurbler, denen die Rest-EU den Brexit zu verdanken hatte. Dass auch bei diesem Schritt die Politik der EU mit ihrem zunehmend bürokratisch-dirigistischen Anspruch in der Verantwortung stand, wird schlichtweg ausgeblendet. Gut, wenn man Feinde hat, die alles auf sich vereinen, wogegen sich emotional mobilisieren lässt. Dann kommt das eigene Verhalten nicht auf den Seziertisch.

Von Feuerbach stammt die kluge Überlegung, dass jede formulierte Illusion nicht nur eine Flucht in das Idealistische, sondern auch ein Protest gegen das Gegebene darstellt. Er bezog das auf die Religion. Religion, Philosophie und Politik sind jedoch das Ergebnis einer fortschreitenden Säkularisierung. Bei der Betrachtung der gegenwärtigen Tendenzen im Wahlverhalten scheint es vernünftig zu sein, diesem Gedankengang zu folgen. Demnach ist die Zuwendung zu allem, was der klassischen alten Linken als traditionalistisch und nationalistisch galt, nicht nur eine Illusion, weil es zu keiner Lösung in einer globalisierte Welt führt, aber eben auch ein Protest gegen sich auflösende Ordnungen, den um sich greifenden sozialen Kannibalismus innerhalb der Gesellschaften und die Zuspitzung auf Kriege zu sein. Wer meint, diese Motive als reaktionären Unsinn diskreditieren zu müssen, hat die Zeichen der Zeit nicht verstanden. 

Für die obrigkeitsstaatlich und EU-frommen Akteure scheint die Sache sehr klar zu sein: Wer sich gegen das Desaster, welches am besten mit dem Motto „Feinde ringsum!“ Beschrieben werden kann, ist ein rechter Agent. So stellt man die Verhältnisse auf den Kopf. Was dabei herauskommt, dafür existieren beredte historische Beispiele. Ein gutes Ende hatte keines.   

Zwei Orangen, fünf Nüsse

Aufgeregt, nein erregt war sie, die Intensivkrankenschwester, als sie am Heiligen Abend einen Gruß über die Straße rief. Sie hatte in der Nacht zwei Mittzwanziger tot auf den Flur geschoben, wohl jene, die glaubten, das hässliche Virus träfe nur die Alten. Keine Vorstellung könne man sich davon machen, wie es zugehe, beim Dienst, das nackte Elend, alle seien gestresst. In dieser Situation habe es die Leitung des Hauses noch fertiggebracht, allen zwei Orangen und fünf Nüsse zukommen zu lassen, ohne ein Wort, ohne eine Zeile. Die Hölle habe ein Gesicht, rief sie noch, und dann radelte sie fort, nach Hause, um etwas Schlaf zu finden, vor der nächsten Tortur.

Währenddessen waberten die sich immer wiederholenden Nachrichten durch die Netze, von Briten, die jetzt auch noch eine Mutation des Virus zustande gebracht hätten, die wesentlich ansteckender sei. Die Meldung hat die Aura dessen, was später zu dem Namen der spanischen Grippe führte. Ressentiment als Ersatz für eigene Anstrengung und Ratio. Die Wahrheit verbirgt sich hinter einem Vorsprung Großbritanniens in der Grundlagenforschung. Auf 100.000 Virus-Analysen dort, entfallen 2000 hier. Dass man dann fündiger wird, diese Erkenntnis beschert bereits die niedere Mathematik.

Und wieder Großbritannien. Der Brexit, so hieß es, werde jetzt doch nicht gar zu hart, sondern geregelt, weil Kompromisse gefunden worden seien. Zum Schluss kam heraus, dass das Abfischen anderer europäischer Länder innerhalb der britischen Hoheitsgewässer jetzt doch nur um 25 Prozent reduziert wäre. Reiche Beute, könnte man sagen, und solche Zahlen eigneten sich als ein Indiz dafür, warum die Insulaner auch mächtig Überdruss empfinden, wenn sie das Wort Europa hören. 

Und dann noch die nicht enden wollende Revolverstory um den russischen Rechtspopulisten Nawalny. Er selbst, so tönte er – sitzt er eigentlich immer noch im Schwarzwald? – habe dem russischen Geheimdienst FSB eine Falle gestellt und ein Agent habe ihm am Telefon in seiner ganzen Dummheit gestanden, Nawalny Unterhose mit dem tödlichen Gift Nowitschok vergiftet zu haben. Irgendwie, man muss sich ja bereits dafür entschuldigen, dass man noch auf die eigenen Sinne zählt, passt da einiges einfach nicht mehr zusammen. Ein Geheimdienst, dem attestiert wird, die Fähigkeit zu besitzen, selbst die elaborierten Firewalls der USA zu durchdringen und dem es selbst gelang, dort einen Präsidenten zu installieren, scheitert nun an der Unterhose eines Regimekritikers aus der russischen Provinz? 

Seltsam, sehr seltsam. Da wäre es geraten, doch etwas genauer hinzuschauen und sich die Sache einmal in aller Ruhe vor Augen zu führen. Und was macht der Chefdiplomat der Regierung? Er schlägt an wie ein von Langeweile geplagter Kettenhund. Diplomatie sieht anders aus, sie spielt auch nicht auf Twitter, sondern dort, wo man sich in die Augen schauen und bittere Wahrheiten mitteilen kann. 

Das alles hat die Aura einer Komödie, allerdings mit dem Potenzial, als Tragödie enden zu können. Die verordnete Ruhe ist ein Segen, denn sie ermöglicht, vieles jenseits der Hitze des Tages noch einmal Revue passieren zu lassen und zu beobachten, wo vieles im Argen liegt. Ja, wenn es einen Rat gibt, der für einen selbst immer passt, der aber auch jenen helfen könnte, die noch nicht ganz als verlorene Seelen bezeichnet werden müssen, dann ist er in einem einzigen Wort zu finden: Demut! Sie hilft, sie lindert den Schmerz, und sie bewahrt vor fatalen Fehlern.