Schlagwort-Archive: Deutschland

Wo die Freiheit begraben liegt

Das immer wieder anzutreffende Argument, früher sei alles besser gewesen und wir befänden uns heute in eine Phase der demokratische Regression, ist nicht zutreffend. Wer sich Dokumente aus anderen historischen Phasen der Bundesrepublik ansieht, kommt sehr schnell zu dem Schluss, dass der Kampf um bestimmte Linien im Sinne der Staatsführung und Staatsgestaltung immer vorhanden war. Und es gab immer Kräfte, die anti-demokratisch, revisionistisch und schwer von der Vergangenheit belastet waren. Es gab immer die Frage, die sich um die nationale Souveränität drehte, und zwar sowohl während der Existenz zweier deutscher Staaten als auch danach. Der Abzug der einen Besatzungsmacht folgte nach die der anderen.

Der wie auch immer gekleidete Faschismus ist nie von der Bühne verschwunden, der Kolonialismus genauso wenig tot wie der Imperialismus, zumeist nicht offen, vielleicht außer in ökonomischer Form, politisch-wirtschaftlich zumeist im Windschatten der Supermacht USA. Die Berichterstattung über die konkrete Politik, die die gleichen Kämpfe wie heute spiegelte, war auch nicht radikal anders, dass die öffentlich-rechtlichen Anstalten zu einer Regierungskonferenz Meinungsindustrie entwickelt hat, gehört zu den wenigen Innovationen, auf die man zurückblicken kann. 

Insofern ist jeder romantische Gedanke an die besseren alten Zeiten ein unsinniges Unterfangen. Was sich tatsächlich während der Merkel-Ära ff. geändert hat, ist die Entwicklung von einem Rechtssaat zu einem zunehmend autoritärer werdenden Gesetzesstaat. Vor allem die Zeit der Corona-Lockdowns mit der Aussetzung unveräußerlicher Rechte hat eine neue Qualität entstehen lassen. 

Was sich in der jüngeren Geschichte radikal geädert hat und es gegenwärtig so schwer macht, zu politischen Formationen zu kommen, die den demokratischen Prozess im positiven Sinne beflügeln könnten, ist die radikale Veränderung des Erscheinungsbildes des zeitgenössischen Faschismus, des Lobbyismus, des Kolonialismus, Imperialismus und damit einhergehenden Militarismus. Zu sehr sind die Bilder der historischen Formen in den Köpfen präsent. Reichskriegsflaggen, Wolfsangeln, SS-Runen oder Führersymbole führen zu sofortiger Aufmerksamkeit, während die zeitgenössischen Formen von Feindbildung, Hassreden, Massenpsychosen, Angsterzeugung, Rechtsbruch und Gewaltanwendung unter der Chiffre von welchen Werten auch immer, Hauptsache von einer kleinen weißen Elite formuliert, den Anstrich von Demokratie erhalten. Vieles von dem, was heute zu beobachten ist, übertrifft bereits bei weitem die Dystopien, die in den Romanen 1984 von George Orwell oder Brave New World von Aldous Huxley. 

Da wird jede Abweichung von der Regierung und dem mit dem unsäglichen Terminus Mainstream beschriebenen autoritären Konsens als Teufelstanz mit Irren oder Faschisten denunziert, als gäbe es nicht so etwas, was von der Antike über Rom bis in die Phasen einer reifen bürgerlichen Demokratie mit den Begriffen von Toleranz, Mäßigung und Contenance beschrieben worden. Die bedrückende Antwort ist negativ. All das ist verschwunden.Da sind Menschen am Werk, die selbst schon lange nicht mehr gestalten. Sie werden getankt von hinter ihnen wirkenden Mächten, die sie mit albernen nun nichtigen Zahlungen und Privilegien anheuern. Und es gelingt, weil sie es mit Individuen zu tun haben, die sich noch nie die Freiheit erarbeitet haben, sich eine innere Haltung leisten zu können. Und alle, die dieses Werk durch ihr Schweigen und ihre aktive Zustimmung mit voran getrieben haben, zappeln im Korsett der Angst und sind unfähig, oft trotz besserer Erkenntnis, sich von den eigenen Irrtümern zu distanzieren. 

Sage noch einer, Karl Marx hätte das Wesen der Geschichte Deutschlands nicht gut beschrieben. In seiner Schrift „Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung“ aus dem Jahr 1843 stand ein Satz, der nicht aktueller sein könnte:

„Ja, die deutsche Geschichte schmeichelt sich einer Bewegung, welche ihr kein Volk am historischen Himmel weder vorgemacht hat noch nachmachen wird. Wir haben nämlich die Restaurationen der modernen Völker geteilt, ohne ihre Revolutionen zu teilen. Wir wurden restauriert, erstens, weil andere Völker eine Revolution wagten, und zweitens, weil andere Völker eine Konterrevolution litten, das eine Mal, weil unsere Herren Furcht hatten, und das andere Mal, weil unsere Herren keine Furcht hatten. Wir, unsere Hirten an der Spitze, befanden uns immer nur einmal in der Gesellschaft der Freiheit, am Tag ihrer Beerdigung.“

Deutschland: Raubtier oder Kätzchen?

Viel und zurecht wird sich darüber empört, dass in der heutigen Zeit das Denken in historischen Dimensionen in unseren Breitengraden zu kurz kommt. Und dennoch seien auch die Belesenen und auf eine tiefgreifendere Analyse Erpichten davor gewarnt, sich zur Verfügung stehender Literatur hinzugeben, um ein scharfes Auge auf die gegenwärtigen Zustände zu werfen. Einer der zu Missverständnissen nahezu einladenden Titel ist der von Walter Benjamin gewählte „Der Ursprung des deutschen Trauerspiels“. Es geht dabei tatsächlich um die Bühnenwerke, vor allem in Abgrenzung zur klassischen Tragödie. Wer sich über das nun schon sehr lange andauernde Trauerspiel der deutschen Politik klug machen will, sollte auf keinen Fall dem Trugschluss unterliegen, in diesem Buch Antworten zu finden.

Gäbe es einen einzigen Schlüssel, um die Schwierigkeit einer eigenständigen, strategisch durchdachten und konsensfähigen Politik erklären zu können, dann wären viele Rätsel bereits im wahren Sinne des Wortes entschlüsselt. Nein, die eine Erklärung gibt es sowieso nicht, und die Geschichte ist zu komplex, als dass sie einfach dargestellt werden könnte. Was wir wissen sollten,  was allerdings bei vielen aus dem geschäftsführenden Handlungskörper der Gegenwart noch nicht angekommen ist, ist die Tatsache, dass Deutschland erst sehr spät zur Nation wurde, dass es von Anfang an ein kulturell zerrissenes Gebilde war, dass es ökonomisch stark wurde und politisch schwach blieb und in zwei imperialistischen Kriegen versuchte, zum Hegemon zu werden und dabei scheiterte. Dass nach dem ersten Versuch die Rache der Bedrängten alten Kolonialmächte so groß war, dass ein zweiter Versuch vorprogrammiert war, zeigt, wie unvernünftig Sieger immer wieder sind und wie wenig sie die Langzeitwirkung ihres Handelns durchdenken. Nur ein kleiner Hinweis auf die aktuelle Lage, für diejenigen, denen es nicht ins Auge sticht.

Was nach der Kaiserkrönung eines Deutschen im schönen Schloss Versailles in 150 Jahren der Aufs und Abs trotz aller Versuche geblieben ist, gleicht nahezu der Ausgangslage. Ökonomisch stark, politisch schwach. Und so, wie sich die Dinge darstellen, erleben wir massive Versuche aus dem eigenen Land wie dem „eigenen Lager“, die ökonomische Stärke zu brechen und das Experiment einer deutschen Nation endgültig ad acta legen zu wollen. Wege, die dahin führen, gibt es viele. Aber es existiert nur eine Option, die das verhindern kann, nämlich die politische Emanzipation von den Bündnisgeboten ehemaliger Siegermächte. Ginge es frei und gleich zu, dann wäre das eine Selbstverständlichkeit. Aber, um so frei wie einst Österreich zu sein, ist Deutschland zu groß und zu produktiv, aus Sicht des transatlantischen Imperiums wie des alten, maritimen britischen. Eine Emanzipation im eigenen, wie im europäischen Sinne kann es nur im Gleichklang mit Frankreich geben, quasi als Kern einer europäischen Selbstständigkeit, die nicht unterminiert wird durch immer noch blühende Nationalchauvinismen und nachvollziehbare Traumata in Osteuropa, übrigens ein kongeniales diabolisches Gemisch. 

Gerade jetzt, in diesem Augenblick, der geprägt ist von einem heißen Krieg auf dem europäischen Kontinent und der nur diejenigen tatsächlich überrascht, die die geopolitischen Veränderungen auf der Welt in den letzten dreißig Jahren nicht verfolgt haben, ist die Stunde gekommen, sich hier in Deutschland Gedanken darüber zu machen, wohin die Reise geht. In die politische Selbstständigkeit, die einer eigenen Strategie folgt, oder bleibt es dabei, von fremden Mächten getrieben zu sein, mal ein bisschen taktierend, mal mit den Händen an der Hosennaht, ökonomisch zuweilen ein Raubtier, politisch ein Kätzchen? 

Sollte der Zeitpunkt in dieser historischen Situation wieder einmal weg taktiert werden, dann bleibt es beim deutschen Trauerspiel. Und ich bleibe dabei, Walter Benjamins Buch hilft dennoch nicht. 

Wie wird die Zukunft aussehen?

Momentan gibt es keinen Guten Morgen mehr. Weder in der Ukraine, noch in Deutschland, noch in Russland. Die Beschränkung auf diese drei Länder soll nicht alle Regionen ausgrenzen, in denen sich Menschen Sorgen machen, wenn ein heißer Krieg geführt wird. Aber die drei von mir genannten Länder sind die eigentlichen Verlierer. Sie werden Jahre, wenn nicht Jahrzehnte brauchen, um sich von diesem Desaster zu erholen. Noch wird diese Perspektive ausgeblendet, weil das Spiel noch heiß ist und man auf der einen oder anderen Position glaubt, man könne das Spiel noch gewinnen. Kann man nicht. Keiner.

Die Ukraine, das Opfer, wurde vollumfänglich angegriffen. Auch wenn dort, sofern man im Moment irgendwelchen Medien Glauben schenken kann, entschlossen gekämpft wird und die russischen Invasoren auf einen Widerstand stoßen, mit dem sie nicht gerechnet haben, werden sie nicht standhalten können. Zu groß ist die Übermacht. Die Ukraine in ihrem jetzigen Zustand wägte sich in einer falschen Sicherheit. Sie wird nicht militärisch, sondern nur semi-militärisch und diplomatisch unterstützt und sie ist zum Objekt der Betrachtung geworden, wie schlagkräftig und durchsetzungsfähig die russischen Streitkräfte tatsächlich sind. Das Schicksal des Landes ist düster und es hängt von der Dauer bis zur Kapitulation ab, in welchem traurigen Ton die Zukunft gestaltet wird.

Russland, der Aggressor, hat sich bei der Einschätzung der Lage gewaltig geirrt. Die eigenen Schäden, d.h. die Anzahl der eigenen Toten und der vernichteten Kriegsmaschinerie wird weitaus höher sein als veranschlagt. Noch größeren Schaden wird jedoch die internationale Ächtung auslösen, ökonomisch, politisch und kulturell. Russland ist für Jahrzehnte aus Europa verschwunden. Nichts, keine Verträge mit China oder Indien, werden diesen Verlust wettzumachen imstande sein. Russland ist für Europa verloren und es wird eine tiefe Depression folgen. In Russland, aber auch im Rest Europas, auch wenn das im Moment kaum jemand wahrhaben will.

Und Deutschland? Deutschland hat in diesem heißen Konflikt gesehen, wo es wirklich steht. Ja, fest im Bündnis, werden viele sagen, aber wohl nur deshalb, weil es auf die Artikulation der eigenen Interessen verzichtet hat. Wenn die Mitgliedschaft in der Gemeinde der Freien darin besteht, die eigenen Positionen nicht mehr vertreten zu dürfen, dann ist etwas gehörig schief gegangen. Unter dem Strich werden die Kosten der Sanktionen für Deutschland am größten sein, die Lieferung von Waffen an einen Kriegsgegner Russlands ist bereits de facto heikel, in Bezug auf die Kriegsparteien des II. Weltkrieges wahrscheinlich auch de jure. Einmal  abgesehen von dem alles ausdrückenden Bild, auf dem ein amerikanischer Präsident dem Bundeskanzler mitteilt, wann das Aus für Nord-Stream II besiegelt sei, wo eine Widerrede angebracht gewesen wäre, aber ein Schweigen nur demütigend war, hat die Zurückweisung der ursprünglichen deutschen Position durch die NATO, intensiv auf Verhandlungen zu setzen, die wahren Kräfteverhältnisse aufgezeigt.

Und ein weiterer Verlierer ist die deutsche Gesellschaft, der nach der bereits gravierenden Spaltung durch Corona nun eine zweite Entzweiung folgt. Und die Gesellschaft dokumentiert, dass sie nicht in Form eines demokratischen Diskurses damit umgehen kann, sondern in einer verhärteten, totalitären Logik nur noch in der Lage ist, den Hammer der Ausgrenzung zu schwingen. Freundschaften gehen zu Bruch, Ehen sind in der Krise, die Zahl derer, die dem Land den Rücken kehren wollen, nimmt dramatisch zu. Und eine große Mehrheit fühlt sich wie immer auf der Seite des exklusiv Guten. Sie verbietet es, nach Ursachen im eigenen Handeln zu suchen, das womöglich zu dem zweiten Desaster in kurzer Zeit geführt hat. 

Der Westfälische Frieden war das Dokument all derer, die sich nach dem langen, zehrenden Dreißigjährigen Krieg als Verlierer fühlten. In dem Dokument war zum ersten Mal die Denkweise zu erkennen, dass man bei der Interaktion mit anderen Staaten die Souveränität des anderen respektiere und auf den Versuch einer Intervention verzichte, auch wenn die inneren Angelegenheiten des Gegenübers widerstrebten. Der Westfälische Frieden war die Geburtsstunde der internationalen Diplomatie. Die Verletzung seiner Prinzipien ist seit langem zum Prinzip geworden. Und, leider muss so etwas auch und besonders in traurigen Momenten gesagt werden, einer der schlimmsten Elefanten im Porzellanladen war dabei das westliche Bündnis.

Wie wäre es, wenn der Rauch verzogen ist und die Akteure durch andere ersetzt sind, daran zu denken, dass die Verlierer dieses Krieges, Ukrainer, Russen und Deutsche, sich an einen Tisch setzten und versuchten, Regeln des friedlichen Zusammenlebens für die Zukunft zu entwickeln? Das klingt wie die Vision eines Phantasten. Dass allerdings in diesen Tagen gar nicht an die Zukunft gedacht wird, ist alles andere als phantastisch.