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Netzwerke

Irgendwann tauchten sie auf. Im öffentlichen Bewusstsein. Das war zu einem Zeitpunkt, als viele meinten, die Substanz ginge verloren. Plötzlich galten Politiker, zu denen sonst wenig zu sagen war, als brillant in diesem Metier. Nicht, dass es sie vorher nicht gegeben hätte. Und wie. Nur sprach da niemand davon. Es war der Reiz, sie zu haben und nicht darüber zu reden. Menschen, die Einfluss hatten, verfügten über sie. Und sie dehnten sie aus. Und sie pflegten sie. Aber es waren Menschen, die etwas zu sagen hatten. Deshalb sprachen sie nicht über sie, sondern über das, was ihnen wichtig war.

Gemeint sind die Netzwerke. Sie scheinen das Nonplusultra in einer Welt geworden zu sein, die sich von Visionen und Strategien im Großen und Ganzen verabschiedet hat. Nun, was machen Menschen, die wenig zu sagen haben, aber viel erreichen wollen? Sie knüpfen und pflegen Netzwerke. Wie gesagt, gegen Netzwerke als solche ist nichts einzuwenden. Sie sind die sozialen Beziehungen, die jemand braucht, um etwas in Bewegung zu setzen. Aber was nützen sie, wenn dieser Jemand, oder besser gesagt Niemand, etwas in Bewegung setzen will, worüber er keine Vorstellung hat? Sie dienen zur Bewahrung und Ausdehnung eines Einflusses, der nichts bewirkt. Der den Stillstand garantiert. Der die Täuschung sichert. Ein brillanter Netzwerker, über den sonst nichts zu berichten ist, das ist entweder jemand, der etwas für Jemanden umsetzt, der eine Vision hat, dann ist er ein Handlanger, oder er ist selbst Jemand, der bestenfalls als ein talentierter Selbstdarsteller bezeichnet werden muss.

Nehmen wir jede historisch erfolgreiche Bewegung, die uns einfällt. In der Politik, in der Kunst, in der Wissenschaft, im Sport. Die Protagonisten hatten eine Vision, die dem Zeitgeist nicht entsprach, sondern in die Zukunft wies. Sie waren besessen von einer Idee und sie beherrschten ihr Handwerk. Sie suchten nicht nur Gleichgesinnte, sondern sie suchten auch andere, die ebenfalls etwas zu sagen hatten, die gut oder genial waren und von denen sie lernen konnten. So entstanden Verbindungen und Unterstützungsgeflechte, die dazu beitrugen, die Idee zu realisieren. Darüber sprachen die Protagonisten aber nicht. Es war für sie selbstverständlich. Netzwerke entstanden von selbst, weil sie das notwendige soziale Beiwerk für die Gestaltung einer Idee wurden. Und erst im Nachhinein gelang es der historischen Forschung, das Beziehungsgeflecht derer, die ihre Welt verändert hatten, sukzessive freizulegen. Das Netzwerk war jeweils Mittel zum Zweck.

In einer Welt, die in starkem Maße von der Digitalisierung geprägt ist, verwundert es nicht, dass, ähnlich wie der Begriff der Schnittstellen, einiges aus dieser Technologie als Metapher Eingang in den kollektiven Diskurs findet. Also auch das Netzwerk. Das Problem, das sich damit verbindet, hat allerdings zwei Ebenen. Die eine ist die Beschriebene, nämlich das Geflecht ohne Aussage. Die andere ist der Mythos, der sich bei der Glorifizierung der Digitalisierung selbst herausgebildet hat. Die technischen Möglichkeiten korrespondieren nicht mit der gleichen Fülle von Ideen und deren Trägern, die sich diese zunutze machen könnten. Die vernetzte Welt bietet keine neue Qualität, wenn sie keine Ideen produziert, die diese verändern könnten. Wie so oft, ohne den Menschen geht es nicht. Und Menschen, die sich immer mehr vom gestaltenden Subjekt zum verwalteten Objekt entwickeln, werden immer weniger in der Lage sein, in das Metier der Gestaltung vorzudringen. Brillante Netzwerker sind die Magier des Stillstandes. Netzwerke, die etwas bewirken, sind nicht Gegenstand des öffentlichen Diskurses. Es sind die Ideen, die die Qualität bestimmen.

Der Rat des Bauches

Die These ist steil. Dennoch spricht vieles dafür. Es geht um eine Konsequenz im Zeitalter der Digitalisierung. In einer kulturkritischen Abhandlung stellte sie einer auf, der selbst noch analog sozialisiert wurde. Die Digitalisierung, so seine These, geht immer den direkten Weg. Sie räumt nicht nur alles aus dem Weg, was zwischen dem Wunsch des Individuums und seiner professionellen Erfüllung steht, sondern sie geht ihn erst gar nicht. Das Individuum kommuniziert direkt mit der Agentur des Komplexen, die ihm alles sehr einfach macht. Alles, was dazwischen steht, ist obsolet geworden. Keine antiken Büros und Agenturen mehr, keine Vermittler, keine Erklärer, keine Lehrer, keine Politiker, sprich keine Priester. Die Zeit der Priester, im direkten wie übertragenen Sinne, ist vorbei.

Beispiele dafür lassen sich leicht finden. Und sie werden stets beklagt. Der Buchhandel ist ein gerne genommenes. Er keucht seit einiger Zeit, wären da nicht die antiken Junkies, die immer noch am Haptischen hängen, einen psychosozialen Plausch im Lädchen an der Ecke brauchen und manchmal sogar, so wie man hört, mit dem dort erstandenen Produkt ohne Hemmungen ins Bett gehen. Wären nicht diese Perversen, dann wäre der Buchhandel bereits in Gänze Geschichte, so wie, sagen wir einmal, Reisebüros.

Richtig spannend wird die These, wenn man sich den Lehrern und Politikern – selbstverständlich gesternt und gegendert – nähert. Der mit der Corona-Ausnahmesituation so viel beschworene Digitalisierungsschub im eher kommunkationstechnologisch resistenten Germanistan wird, so lässt sich bereits bei der Fraktion der Befürworter leicht ausmachen, zu einer Massenliquidation des antiken Lehrerberufs führen. Der humane Zug von Bildung und Erziehung wird der interaktiven Wissensvermittlung weichen und den dogmatischen, technikaversiven Nostalgikern am Klassenpult die Lampe ausblasen. Inwieweit das zu besseren Menschen führen wird, steht bei der Bewertung der These nicht zur Debatte. Lehrer passé.

Und wie sieht es bei den Vermittlern der Politik aus? Ehrlich gesagt, die These gewinnt erst in diesem Zusammenhang so richtig Charme. Denn dass die klassischen Vermittler von Politik sich in einer existenziellen Krise befinden, ist überall zu beobachten. In richtig großem Maßstab haben das bereits die USA und Frankreich mit ihren jetzigen Präsidenten gezeigt. Sie sind beide ein Schlag in das Gesicht der alten, gesetzten, bürgerlichen Demokratie mit ihren Institutionen. Dass mit den beiden Figuren, die eine derb, brachial und banausenhaft, die andere smart, eloquent und gerissen, dennoch eine Illusion ins Amt kam, hat sich bereits herausgestellt. Sie sind der Ausdruck des Versagens, Politik in ihrer Komplexität noch vermitteln zu können. Beide haben bis jetzt erfolgreich diese Komplexität reduziert und ein Desaster verursacht. Das Verheerende dabei ist der Versuch vieler aus dem bedrohten Gewerbe, diesem Muster zu folgen. Es wird in Chaos und Verwerfung enden.

Aber wenn die Zeit der Priester, und damit sind alle Vermittler gemeint, die des Materiellen wie die der Seele, wenn sie vorbei ist, wie wird der Prozess, der zwischen dem Willen des Individuums und der Gesellschaft verläuft, gestaltet sein? Durch Algorithmen? Mathematisch-informatische Codes, die die Summe der Informationen, die vorliegen, zu Befehlen dechiffrieren, die dem Wunsch der Summe der Individuen, sprich das ehemalige Volk, für das noch kein passender Begriff gefunden wurde, entsprechen? Das nur noch seine Zufriedenheit oder den Unwillen per Button artikulieren muss, um das dienende Regime zu bestätigen oder abzuwählen? 

Die Tendenz, die die These hervorruft, dass die Zeit der Priester vorbei ist, lässt sich nicht von der Hand weisen. Die Vorstellung darüber, wohin die Reise gehen wird, trägt in vielen Fällen dystopische Züge. In Zeiten, in denen Systeme ins Wanken geraten, ist die dunkle Sicht nachzuvollziehen. Ein guter Rat ist immer, und dabei bleibe ich, Digitalisierung hin oder her, auf den eigenen Bauch zu hören. Meistens bestätigt sich, dass er richtig lag, auch nach einer rationalen Analyse. Der Bauch sagt, auf keinen Fall den taumelnden Priestern zu folgen, die mit bereits brennender Kutte das Himmelreich verkünden. Und er sagt auch, nimm deine Sache in die eigene Hand. Zusammen mit denen, denen du vertraust. Man möge die Schlichtheit dieses Rates verzeihen.

Anton Tschechow und die Digitalisierung

Der Autor einer gerade veröffentlichten Studie über den Zustand der Deutschen Bahn stellte in einem Interview die These auf, dass es mit Leistungsfähigkeit wie Zustand des Unternehmens nicht so überaus kritisch aussehe, wenn die Parlamentarier, die letztendlich für die Steuerung öffentlicher Unternehmen die Verantwortung trügen, mehr mit der Bahn führen anstatt dass sie auch innerhalb der Republik überallhin flögen. Damit sprach er etwas an, das uns in Zeiten der schwindenden Unmittelbarkeit stärker beschäftigen sollte. 

Dabei ist die Entfremdung der gewählten Mandatsträger von denen, die sie beauftragt haben, immer ein Drama des politischen Systems. Lebt die politische Klasse in einer anderen Welt, dann kann sie sich kaum noch vorstellen, was es bedeutet, morgens in der Bahn zu sitzen und zur Arbeit zu fahren, dabei unter Verspätungen wie Ausfällen zu leiden, Ärger mit dem eigenen Betrieb zu bekommen etc.. Und wenn die Entfremdung überhand nimmt, dann endet es so wie bei der letzten französischen Kaiserin Marie Antoinette, die, erstaunt, dass das Pariser Volk auf den Straßen nach Brot schrie, den Rat gab, wenn es kein Brot gäbe, dann solle es doch Kuchen essen. 

Einmal abgesehen von den historisch dramatischen Beispielen, eine Vorstellung davon, wie viele Menschen mitten in der Gesellschaft leben, scheint in der Politik nicht mehr vorhanden zu sein. Zu sehr muten auch Vorschläge aus dem Parlament eher an wie zynische Einwürfe und nicht wie Lösungsansätze. Der Zynismus tritt immer dann in Erscheinung, wenn das konkrete, unmittelbare Wissen um die Lebensumstände fehlt.

Die Politik ist jedoch nicht das einzige Feld, auf dem diese Entwicklung zu beobachten ist. Es handelt sich um ein gesellschaftliches Phänomen, das aus der flächendeckenden Maschinisierung aller Lebenswelten erklärt werden muss. Die direkte, unmittelbare Erfahrung wird zunehmend zurückgedrängt im Prozess der menschlichen Erkenntnis. Jedes Lernen in der realen Welt wird zurückgedrängt durch das indirekte, vermittelte Lernen via digitaler Korrespondenz. Ob es sich um Navigationssysteme im Straßenverkehr handelt, um Apps, die das Reisen steuern bis hin zum Kochen geschieht alles interaktiv mit der neuen Maschinenwelt. 

Das Ergebnis ist ein zwar nach wie vor gewährleistetes Funktionieren, jedoch sind die sozialen Dimensionen, die in der direkten Erkundung eine Rolle spielen, verloren gegangen. Ein junger Mensch, der in seiner eigenen Stadt umherzieht und Wege erkundet, auf denen er mit Menschen in Kontakt kommt, die mit ihm sprechen und etwas über die Bevölkerung aussagen, die in den einzelnen Stadtteilen wohnen, Gerüche, Lärm, und exotische Besonderheiten, erhält ein ganzes Paket der Orientierung, welches ihm vorenthalten bleibt, wenn er den Instruktionen des Navigationssystems folgt, die übrigens selten dazu führen, sich in Zukunft autonom zu orientieren.

Bei Reise-Apps handelt es sich um eine radikale Erleichterung im Hinblick auf Suchen und Finden. Was sie jedoch kategorisch ausschließen, sind die Irrwege, die auf fremden Terrain zu besonderen Erkenntnissen führen. Die Frage nach dem Weg, der falsche Weg, das Treffen auf seltsame Typen, mit denen besondere Geschichten erlebt werden, die zu einer besonderen, individuellen Erfahrung werden und in ein Narrativ münden, das das Bild eines Landes oder einer Stadt beginnt zu prägen. Alles, was das konkrete historische Handeln von Menschen ausmacht, ist eliminiert.

Netzgenerierte Koch-Instruktionen sind hilfreich bei der schnellen Produktion von Gerichten. Was sie nicht vermitteln, ist das Narrativ derer, die das Wissen übermitteln. Die Geschichten der Großmütter, die die Zutaten verbanden mit Geschichten über die Produktionsbedingungen und die Finesse der Armen, aus Nichts etwas zu machen, sie sind dahin.

Die Leserinnen und Leser mögen sich durch ihren Alltag deklinieren und dabei der These folgen, inwieweit die Maschinensteuerung die unmittelbare, vor allem soziale Erfahrung eliminiert hat. Es geht nicht darum, die Vergänglichkeit der guten, alten Zeiten zu beklagen. Es geht darum, die konkreten Lebenswelten nicht aus den Augen zu verlieren, weil es sonst zu einer sozialen Kälte kommt, die die Grundlagen des Zusammenlebens zerstören. Wer angesichts der beschriebenen Entwicklung nur Hurra schreit, hat den Konnex zur existierenden, realen Welt bereits verloren. 

Bestimmte Verhältnisse ändern sich nur begrenzt. Ein Zitat von Anton Tschechow, dem russischen Erzähler und Dramaturgen, möge helfen:

„Die Leute fahren nicht zum Mond! Die Leute gehen zur Arbeit, essen Suppe und streiten sich mit ihrer Frau.“