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One of these days

In allen Sprachen existieren Redewendungen, die treffen es einfach. Aus ihnen spricht die Unendlichkeit der kollektiven Erfahrung. Deshalb haben sie sich etabliert, deshalb haben sie sich gehalten. One of these days, dieses Beispiel aus dem Englischen, gehört dazu. Ich habe es überall gehört, auf verschiedenen Kontinenten. Es hat Musiker wie Filmemacher inspiriert und ist zu einem spirituellen Evergreen avanciert. 

Die Bedeutung ist so wuchtig wie einfach. Es geht darum, eben einen jener Tage zu benennen, an denen nichts so geschieht, wie es üblich ist, an denen etwas schief geht, in denen Verkettungen von Ereignissen zu absonderlichen Reaktionen führen, in denen das Kalkulierbare auf der Verliererstraße ist. Diejenigen, die diese Redewendung benutzen, sind allerdings alles andere als entsetzt oder depressiv, was hinsichtlich des Anlasses durchaus möglich wäre. Nein, sie wollen mit der Redewendungen signalisieren, dass es zwar jene Tage, an denen die eigene Absicht und Hoffnung eine Abfuhr erhalten hat, zur menschlichen Existenz gehören. Die Redewendung relativiert das Desaster zu einem nicht sonderlich gewünschten, aber immer wieder realistischen Ereignis. 

One of these days birgt die Kenntnis, dass es Niederlagen gibt, dass Fehler gemacht werden und dass nicht alles so wird, wie man sich das wünscht. Bezüglich der Geschichte unserer Gattung handelt es sich also quasi um einen pädagogischen Hinweis aus der kollektiven Weisheit, dass Scheitern zum Leben gehört und Gram die schlechteste aller möglichen Antworten darstellt. Das Leben ist so, wie es ist. Es existieren Tage des Glücks wie des Unglücks und der Verlauf des Ganzen hängt auch davon ab, wie man mit dieser Gewissheit umgeht. Vielleicht ist die beste Eigenschaft, die es ermöglicht, mit dieser harten Tatsache umzugehen, die schlichte Gelassenheit.

In unseren Tagen, wie wir sie erleben, könnte man allerdings sehr oft, vielleicht sogar täglich diese Redewendung anbringen. Es vergeht derzeit kein Tag, an dem sie nicht angebracht wäre. Ob in der Politik, national wie international, in der Kultur, im öffentlichen Leben wie im privaten Bereich. 

So ist das, wenn die Zeiten bewegt sind. So ist das, wenn Ordnungen erodieren und neue noch nicht etabliert sind. Es sind Tage, Monate und Jahre, in denen alles im Fluss ist und immer und immer wieder etwas passiert, was man sich so nicht vorgestellt hat und das die Vorstellungen von Verlauf und Zukunft enttäuscht. 

Wer da resigniert den Kopf senkt, gibt das Pfund, das dazu ermächtigt, Einfluss auf die Zukunft zu haben, im Kleinen wie im Großen, einfach aus der Hand. Und ja, oft ist es schwer, aber die erwähnte Gelassenheit ist das Einzige, was oft bleibt, wenn man konfrontiert ist mit dem konfusen, irren, nostalgischen, reaktionären und unsinnigen Gestammel, das sich im Äther verbreitet angesichts des rasenden Tempos der Veränderung. Es ist Ausdruck der Panik über den Verlust von Gewissheit. 

Aber es hilf nichts. Auch heute, und morgen, und übermorgen werden wir wieder Grund dazu haben, one of these days zu sagen, aber indem wir das tun, gestehen wir ein, dass es diese Tage eben gibt. Manchmal mehr davon, manchmal wenige, zur Zeit sehr viele. Denken wir an den Sinn dieser Formulierung, aus dem die Weisheit spricht. Verzagen wir nicht! Bleiben wir gelassen!  

Im kollektiven Amok

Natürlich wirkt es befreiend, ab und zu einmal Dampf abzulassen. Alles, was sich aufstaut, drängt darauf, der Begrenzung zu entfliehen. In bestimmten Kulturen, in denen gerade dieses Freilassen von Frustration, Unwillen oder Zorn als ungebührlich gilt, kommt es zuweilen zu extrem destruktiven und pathologisch zu nennenden Exzessen. In Südostasien zum Beispiel. Da nennt man das Phänomen dann Amok, ein in unseren Breitengraden allzu bekannter Begriff. Nach der dortigen Definition sind Amokläufer diejenigen, die irgendwann nicht mehr die Kontrolle über ihre Gefühlswelt haben und dem Druck der gesellschaftlich aufoktroyierten Harmonie nicht mehr standhalten. Dann ist alles verloren, sie ziehen los, sie brandschatzen und sie morden. 

Doch nicht nur in Südostasien, sondern auch in dem klassisch europäischen Kulturkreis, vor allem zu Zeiten des Römischen Imperiums, das unsere Gesellschaften nicht unerheblich beeinflusst hat,  galt die Beherrschtheit als eine der obersten Tugenden. In den Schriften derer, die bis heute sogar in Schulen gelesen werden und die sich immer wieder mit dem, was sie res publica, sprich das Gemeinwesen, den Staat, die Politik, die Römische Republik nannten, finden sich unzählige Hinweise auf die existenziell notwendige Fähigkeit der Bürger, sich zu mäßigen. Trotz aller Berechtigung von Empörung und Zorn sollte es den Betroffenen möglich sein, ohne große Gefühlsregungen den Lauf der öffentlichen Angelegenheiten zu beschreiben, zu betrachten, zu analysieren und daraus vernünftige Schlussfolgerungen zu ziehen. Die zentralen Begriffe, die diese Fähigkeit umschrieben, waren Mäßigung und Gelassenheit.

Wie gesagt, um nicht ins Pathologische abzugleiten, ist es aus Autohygiene ab und zu notwendig, den eigenen Unwillen mitzuteilen und nicht alles, wie wir so treffend ausdrücken, in sich hineinzufressen. Die Entwicklung unserer Gesellschaft hat jedoch einen Pfad aufgenommen, der in eine andere Richtung weist. Durch die nahezu exklusive Sicht auf das eigene Befinden ging mit der Zeit der Kompass für die gesellschaftlichen Notwendigkeiten verloren. Ohne ein anderes Kapitel zu öffnen, sei bemerkt, dass der einem extremistischen Liberalismus entspringende Individualismus diesen Weg bereitet hat. Die ständige Introspektion, die flächendeckende Dokumentation der eigenen Befindlichkeit hat gesamtgesellschaftlich zu einem Zustand geführt,  der vielleicht am besten mit einem kollektiven Amok verglichen werden kann. 

Wer, und seien wir durchaus selbstkritisch, kann noch an sich halten, wenn er Äußerungen anderer hört oder zu Gesicht bekommt, in denen seine Erfahrungs- und Empfindungswelt ganz und gar nicht zu finden ist?  Wem gelingt es dann, innerlich einen Schritt zurückzutreten und das Gesagte in einem Bild über die gesellschaftlichen Zustände wiederzufinden und einzuordnen?  Und wer käme dann auf die Idee, auf dieser Basis einen Dialog zu führen? 

Und so, als hätten die überall lauernden Kontrahenten die Verantwortung für die eigene, überstrapazierte Duldsamkeit und das ganze Unglück dieser Welt zu tragen, verfallen die Erniedrigten und Beleidigten übereinander her und tragen zu dem Zustand des kollektiven Amoks bei. Die nicht nur reklamierte, sondern auch erforderliche Gelassenheit für einen produktiven gesellschaftlichen Diskurs ist dem Zustand der Überhitzung und der destruktiven Impulse gewichen. 

In Südostasien hat man übrigens wenig Skrupel mit den armen Seelen, die unter das Joch des Amok geraten sind, kurzen Prozess zu machen. Sie gelten dann als eine gesellschaftlich kollektiv verschwiegene Episode, über die niemand mehr spricht. Aber hier, als Massenphänomen, gliche so etwas einem gemeinschaftlichen Suizid. Sollte das tatsächlich die Alternative sein?

Ein etwas anderer Neujahrsgruß

Die Stadt, in der ich lebe, hat sich eine wesentliche Tugend aus dem Industriezeitalter bewahrt. Man ist, wie es hier so treffend formuliert wird, geradeheraus, d.h. man sagt, was einem durch den Kopf geht und zwar in der direktest möglichen Form. Das kann für sublimierte Geister zuweilen befremdend sein und auch verletzen, aber auf deren Gesellschaft kann auch verzichtet werden, wenn sie nicht zum entscheidenden Punkt kommen. Das Schlichte ist oft, und das entgeht den eher kompliziert Sozialisierten zumeist, das eigentlich Schwere. Und so überrascht es immer wieder, wie, vor allen Dingen in Zeiten wie diesen, die Menschen hier einen brutal kühlen Kopf behalten und in der Lage sind, die Wahrheit aussprechen. 

Vor wenigen Tagen wurde ich Zeuge einer Unterhaltung zweier sehr betagter Männer. In der Umkleide eines Fitnessstudios trafen sich die beiden per Zufall und wechselten einige Worte. Wir, so begann der eine, stehen doch schon an der Pforte zum großen Glück. Worauf der andere antwortete, da hast du recht, aber bevor wir durch diese schreiten, sehen wir uns hier unten die Scheiße noch ein bisschen an! Dabei lachten beide aus vollem Hals und vermittelten den Eindruck großer Heiterkeit.

Der kurze Dialog dokumentiert Klarsicht und Gelassenheit, zwei Befähigungen, die den meisten Menschen in diesen Tagen nicht gegeben sind. Und wenn, dann sind sie eben dort zu finden, wo sie der gesellschaftliche Diskurs, sofern er einen institutionalisierten, offiziellen Charakter hat, am wenigsten vermutet. Dort, wo die Bedauernswerten und Verblendeten vermeintlich sitzen, blitzt immer wieder die Befähigung auf, die Welt und das Leben, wie sie sich gestalten, ohne Ideologie, ohne Mystifikation und ohne emotionale Befindlichkeit zu erfassen und zu benennen. Eine Gabe, die bei vielen, die bei vielen, die mit Macht ausgestattet sind, ebenfalls vorhanden ist, die ihre Erkenntnisse wohlweislich nicht öffentlich formulieren. Was dazwischen bleibt, ist das verwirrende Kauderwelsch als Produkt einer Maschinerie, die mit Materialien wie Framing, Wording, Mind Setting, Political Spin etc. arbeitet und als gelungenes Endprodukt die totale Verwirrung und Beherrschbarkeit der Köpfe hat. Diese Maschinerie arbeitet auf Hochtouren und wer sich von der pausenlosen semantischen Achterbahnfahrt erholen möchte, begebe sich in die Gesellschaft wie die der beiden geschilderten Herren. Von ihnen gibt es mehr, und zwar in allen Alters- und Geschlechtsgruppen, als die kontrollierte Öffentlichkeit vermuten lässt. 

Und der Kontakt zu diesen Menschen vermittelt außer einem klaren Bild der Verhältnisse auch das, was man als Lebensmut bezeichnen könnte. Denn, wenn man sich und Menschen, an denen einem gelegen ist, zu Beginn eines neuen Jahre etwas wünschen sollte, dann ist es Lebensmut. Das Mysterium, das den Mut so außer Mode gebracht hat, ist die immer wieder gepflegte Illusion, nein, das Tabu, darüber zu sprechen, dass wir alle nur ein bestimmtes Quäntchen an Zeit zur Verfügung haben, um hier auf diesem Planeten einen mikroskopischen Teil zu seiner Entwicklung beizutragen. Wir alle sind nur Gast auf dieser Erde. Wie es so schön heißt, ein paar Jahre bist du jung und stark, dann sinkst du auf den Grund der Weltgeschichte. Wer diese Erkenntnisse erst einmal erklommen hat, der steht, Verzeihung, die beiden Herren gehen mir nicht aus dem Kopf, der steht an der Pforte zum Glück! 

Mein Neujahrsgruß ist eigentlich ein Appell. Mischt Euch unters Volk, macht Euer Ding und nehmt alles nicht so ernst! Das große Glück wartet auf Euch. Es ist alles nur eine Frage der Zeit!