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Manmade Tsunami in the City – Ein Gastbeitrag von Gero von Harder aus Jakarta

Manmade Tsunami in the City

Gero von Harder

Jakarta, am 25. Januar 2020 handgeschrieben

Es ist schon ein merkwuerdiger Zufall, dass ich heute ein Buch von Tiziano Terzani (A Fortune Teller Told Me) beendet habe, das seine einjaehrige Abstinenz von Flugreisen als Spiegel-Auslandskorrespondenz in Asien beschreibt. Gleichzeitig geriet ich selbst unfreiwillig in eine andere Abstinenz. 

Was war passiert? Meine Umgebung wurde nach haeufigen schweren Regenfaellen in den letzten Tagen “geflutet”, was gleichbedeutend mit Ueberschwemmung und Abschaltung der Stromversorgung ist, um Braende zu verhindern. Als erstes war ich erst einmal stinksauer, denn die Ueberschwemmung war nicht notwendig gewesen. 

Zur Erklaerung: In der naeheren Umgebung hat die Marine einen Wohnkomplex fuer ihre Angehoerigen gebaut, sicherlich nicht fuer die niedrigen Grade. Schon bei Baubeginn vor ueber 30 Jahren lag das Gebiet unter dem Meeresspiegel. (Zu dem damaligen Zeitpunkt lagen nur 10 % von Jakarta unter dem Meeresspiegel, heute sind es 40 %.) Von der Stadt wurde eine Schleuse gebaut, um das Wasser in der Regenzeit zu kontrollieren. Eigentlich sollten Fachleute der Stadt die Schleuse bedienen. Doch Marineangehoerige wollten sicherstellen, dass sie immer trockenen Fusses nach Hause kommen koennen. Also haben sie eigene Leute mit MPis bewaffnet dorthin abkommandiert und zum militaerischen Sperrgebiet erklaert, zwar illegal, aber wer etwas dagegen hat, laeuft Gefahr, sich danach mit einer Bleivergiftung herumschlagen zu muessen.

Nun fallen Marinekraefte eigentlich nicht durch Schleusenkenntnisse auf. Wenn einem hoeheren Grad jedoch einfaellt, dass sein Haeuschen demnaechst unter Wasser stehen koennte, gibt er den Befehl, die Schleusen voll zu oeffnen, damit es die Nachbarn abbekommen, natuerlich ohne Vorwarnung und morgens um 2 oder 3 Uhr. Da kommen derartige Wassermassen, dass in ein bis maximal 2 Stunden Hunderte von Haeusern 30 – 40 cm unter Wasser stehen. Hier gibt es eine recht gute Drainage, aber solche Massen in einem  so kurzem Zeitraum schafft das System nicht. Warum diese Doedel das Wasser nicht langsamer und frueher ablassen konnten, ist wohl nur einem militaerischen Dickschaedel verstaendlich. Dann haette es die Drainage geschafft, denn nach 24 Stunden ist das Wasser abgeflossen.

Die Verluste sind betraechtlich, denn die Gegend gilt als ueberschwemmungssicher. Deswegen stellt man auch wasseranfaelligere Sachen in Bodennaehe. Nicht doll, wenn man Sachen in der Wohnung herumschwimmen sieht, die vollen Buecherschraenke die 3 unteren Buchreihen unter Wasser stehen und der Kuehlschrank wohl seinen Geist aufgegeben hat. Fuer Autobesitzer steht die Freude eines abgesoffenen Wagens vor der Tuer. Motorraeder werden manchmal gerettet, indem sie in das Obergeschoss gebracht werden, wenn nicht vorhanden, dann beim zweistoeckigen Nachbarn. (Schon ueberraschend, wenn man schlaefrig aus dem Schlafzimmer kommt und vor einem fremden Motorrad steht. Mir vor ca. 15 Jahren passiert. Gott, hatte ich damals noch einen guten Schlaf!) 

Wenn man sich ueber all diese Dinge wieder abgeregt hat, was einfacher in einem zweistoeckigen Haus ist (unten nass, oben tendenziell trockener, wenn das Dach dem Regen an entscheidenden Stellen standhaelt – es hielt), beginnt die Tageswirklichkeit. Und da ist die Ueberschwemmung zwar aergerlich, aber der Stromausfall haut voll rein. Nun merkt man einmal, wie abhaengig wir inzwischen von Elektrizitaet sind. 

Hier in Jakarta gibt es dann auch kein Leitungswasser. Nach einer Toilettenspuelung ist der leichte Plastikeimer (Gott sei Dank noch nicht wieder aus Eisen)  und der Gang in den ueberschwemmten Teil der Wohnung zum Wasserholen angesagt. Unwahrscheinlich, wie sich da der Wasserverbrauch fuer Toilettenspuelungen reduziert. Duschen faellt komplett aus. Man kann auch nicht die durch die Ueberschwemmung verdreckte Waesche per Hand waschen. So etwas macht man hier noch.

Morgens ist es relativ ruhig, denn nur wenige Mullahs haben einen Genset und nicht viele haben eine so kraeftige Stimme, dass sie auch ohne Lautsprecher auskommen. Sicherlich wird es bald mehr Generatoren geben, denn durch Besitz von einem konnten drei von ihnen den Rest der Kollegen vorfuehren.

Wenn man einen Elektroherd hat, dann fallen der Morgenkaffee und das Morgenei aus, Mittagessen sowieso, Nachmittagstee ist sich nichts und Abendessen der Tagestempe- ratur entsprechend warm. Sollte man eine Tiefkuehltruhe haben, sollte der Stromausfall nicht zu lange dauern, denn nach einer Weile stinkt es, und die Nachbarn koennen die Nahrungsmittel auch nicht gebrauchen, weil sie ja auch nichts verarbeiten koennen. Uebrigens pflegen Tiefkuehltruhen nicht im oberen Stockwerk zu stehen, was Wasserschaeden sehr wahrscheinlich macht.

Stromausfaelle wegen schwerer Regenfaelle gab es  seit Neujahr schon mehrfach. (Diese Regenzeit ist extreme niederschlagsreich mit den hoechsten Tages-Niederschlaegen seit ueber 100 Jahren.) Dann fuhr man einfach in eine der fast 300 Malls von Jakarta mit ihren eigenen Generatoren, wo es Dutzende von Restaurants, Cafes und Bars drinnen und oft auch im Freien gibt. WLAN gibt es ebenso, sonst kaeme kein Kunde. Nur gab es da keine Ueberschwemmung in meiner Gegend, jetzt aber war der Verkehr total ins Wasser gefallen. Paar Kilometer Wassertreten mit vielen Schlagloechern ist keine echte Alternative.

Dann merkt man erst richtig, dass es noch ganz andere Dinge gibt, die den Lebens-rhythmus durcheinanderbringen. So gibt es kein Licht, und hier in der Naehe des Aequators ist es knapp 12 Stunden am Tag dunkel. Was macht man nun am Abend? Lesen? Bei Kerzenlicht, wenn hoffentlich noch vorraetig? Kein grosses Vergnuegen. Die alte Petromaxlampe, mit der man die Lichtstaerke per Pumpe regulierte, ist schon seit langem nicht mehr im Haus. Kann man sich ja einen gemuetlichen Abend mit dem Mitbewohner machen (PartnerIn, Untermieter, Freund, was immer, wenn ueberhaupt vorhanden). Anderes? Wer hat noch Spiele Zuhause oder ein nicht-elektrisches Musik-instrument?

Aber was wir reichlich haben, dass ist elektronische Kommunikation, von der man nun ohne Strom ausgeschlossen ist. Ich lasse hier einmal TV und Radio beiseite, die auch wegfallen. Handy, Tablet, Laptop laufen noch so lange wie die Batterien halten, Wiederaufladen derzeit nicht moeglich. Wenn man am Kabel haengt, hilft auch kein Laptop mehr. (Gibt natuerlich noch andere Wege, die dann alle anderen auch nutzen wollen, was zur Ueberlastung der Sendewege und damit auch zum Absturz fuehrt.)

Von Nachrichten und Informationen ist man abgeschnitten. Eine Nachrichtenstille moechte ein jeder wohl gern ab und an haben, hat er bloss nie, weil er sie eigentlich gar nicht moechte. Bei Stromausfall ist Nachrichtenentzug von aussen verordnet. Das stoert uns doch nicht! Wir sind natuerlich stark und von nichts abhaengig! Deswegen stehen wir darueber! Nur das Wahlergebnis von Hamburg haette ich doch ganz gern gewusst.

Schon interessant, einmal fuer etwas laenger (wir reden ueber ein bis zwei Tage)  ohne Strom zu sein. Es laesst Zusammenhaenge, Abhaengigkeiten, Selbstverstaendlichkeiten in einem anderen Licht erscheinen. Danke fuer diese Erfahrung. Ich brauche sie nicht weiter zu vertiefen. Schliesslich habe ich erst vor drei Tagen meinen PC fuer einige Piepen reparieren lassen. Ach ja, irgendwann werde ich mich auch auf die Suche nach einem Ersatz fuer den Kuehlschrank machen, der ueber das Wasser so toedlich beleidigt war. Das hat aber Zeit.

Reisen ohne Kompass

Ein Freund von mir ist jemenitischer Indonesier, oder genauer genommen sogar jemenitischer Javaner. Irgendwann packte seine Familie ihre Sachen im Jemen und zog weit weg in die Tropen. Sie siedelte sich auf der indonesischen Insel Java an. Dort wuchs er auf. Als er volljährig war, sagte er seinem Vater, er wolle die Welt kennenlernen. Er arbeitete und sparte und konnte sich irgendwann ein Flugticket nach Europa leisten. Einfach! Er blieb für einige Zeit in der Schweiz, in Deutschland und den Niederlanden. Seinen Aufenthalt verdiente er sich durch Arbeiten, die ihm immer wieder angeboten wurden. Als er genug gesehen hatte, wollte er zurück nach Indonesien. Da er kein Geld für einen Flug hatte, machte er sich so auf den Weg. Und so legte er auf dem Landweg fünfzehntausend Kilometer zurück, durchquerte viele Länder und arbeitete immer wieder hier und dort, um sein Fortkommen zu finanzieren. Die Rückreise nach Hause dauerte ziemlich genau ein Jahr. Wenn er heute, als Mann, der bereits auf ein erfülltes Leben zurückblicken kann, in seinem schönen Domizil am Indischen Ozean, darüber berichtet, dann lächelt er weise, und sagt, es sei die wichtigste Zeit seines Lebens gewesen. Auf dieser Reise hätte er vieles gelernt.

Was zu seiner Zeit eine Rarität war, wird heute als Möglichkeit vielen Menschen zugeschrieben. Wie nie zuvor jetten Menschen um den Erdball, um die Welt zu erkunden. Waren sie vor zwanzig Jahren noch meistens mit einem Equipment ausgerüstet, das in Reiseführern empfohlen wurde und oft sehr übertrieben aussah, man denke an die Tropennetze schon auf den Flughäfen oder die dort bereits konfiszierten Multifunktionsmesser, so ist es heute das Smartphone. Auf diesen befinden sich Apps, die durch die Reise führen. Dort ist alles zu finden: Ratschläge, mit welchen Medikamenten man ausgestattet sein sollte, Hinweise auf die wichtigsten Sprachfloskeln, Verzeichnisse von Unterkünften, Wegbeschreibungen aller Art, Hinweise auf besondere Sehenswürdigkeiten, Tipps zur Nahrungsaufnahme und selbst Verweise auf öffentliche Toiletten.

Noch vor einigen Tagen berichtete mir eine Frau, die ich in einer fremden Stadt auf einem Kongress traf, wie sehr ihr diese Apps hülfen. Ich nahm meinerseits an dem dortigen, wie immer schönen Abendprogramm, nicht teil, weil ich einerseits noch etwas erledigen musste, aber auch andererseits wenigstens einen Hauch von dem erfahren wollte, wo ich mich befand. Ich ließ mich durch den dunklen Abend treiben, entdeckte wunderbare Lokale, traf auf Leute, die etwas zu erzählen hatten und blickte in Abgründe, die in keinem Reiseführer stehen. Allein diese wenigen Stunden bescherten mir eine Welt, die in den Apps nicht vorkommt. Kein Zufall, dass mir mein Freund einfiel, der das Reisen ohne Netz und doppelten Boden als eine Art Universität ohne Institution, als eine wahre Schule des Lebens bezeichnet.

Wenn ich an die Reisen denke, die ich meinerseits in meinem bisherigen Leben unternommen habe, dann resultierte alles, woran ich mich gerne erinnere, aus Geschichten, die aus dem Ungeplanten entstanden sind. Da waren vergebliche Wege, auf denen ich skurrile Figuren traf, die mir ihre Sicht der Welt erklärten, da waren Speisen, die auf keiner Karte standen und da waren Orte, die nirgendwo verzeichnet waren. Es waren immer Reisen ohne Kompass. Das alles charakterisierte die Länder, in denen ich mich befand. Ich werde diese Art der Erfahrung nicht eintauschen gegen Apps und Standards, die Reibungslosigkeit und Langeweile gleichzeitig generieren. Über einem freien Mann ist nur noch der Himmel.

Koloniale Wirkungen

Nicht, dass die Völker, die unter dem kolonialen Joch gelitten haben, besonders nachtragend wären. Nein, für das, was sie in der Regel mit den europäischen Kolonisatoren erlebt haben, verhalten sie sich in der Regel äußerst moderat. Der Verweis, dass der Kolonialismus lange vorbei sei, hält einer ernsthaften Probe für die historische Version dieses Kolonialismus nicht stand. Die Zeiten, in denen die betroffenen Länder unter dem Regime einer europäischen Kolonialmacht standen, dauerten weitaus länger als die kurze Periode, die seit der Unabhängigkeit hinter ihnen liegt. Die gemeinsame Vergangenheit der meisten ehemaligen Kolonien bezieht sich auf mehrere Hundert Jahre und das Argument, sie seien mittlerweile lange genug unabhängig, um zu beweisen, dass sie es besser könnten, ist ein letztes Indiz für die nicht endende koloniale Arroganz.

In Anbetracht der Traumata, der strukturellen Veränderungen und physischen Ausbeutung haben viele der ehemaligen Kolonien in den letzten 50-70 Jahren erstaunliche Erfolge erzielt und Großartiges geleistet. In der Darstellung der ehemaligen Kolonisatoren ist dass jedoch alles nichts und nur ein weiterer Beweis für ihre substanzielle Unterlegenheit. Die Eliten seien zumeist korrupt, die alten Mängel wie die Unfähigkeit, Substanz zu erhalten und wirtschaftlich zu planen seien so aktuell wie eh und je und die Mentalität sei eine der modernen Gesellschaft nicht entsprechende.

Bei diesen Vorwürfen handelt es sich um die Erinnerung der Täter. Sie waren es, die das Mittel der Korruption installierten und jahrhundertelang einübten, um die kolonisierten Gesellschaften zu spalten, sie waren es, die über den gleichen Zeitraum wirtschaftliche Ausbeutung ohne die geringste Überlegung an strukturelle Schäden oder nachhaltige Entwicklung zu bemühen und sie waren es, die durch ihr brutales Regime eine Mentalität erzeugten, die von dem Trauma der Inferiorität und einem auf persönlicher Finesse beruhendem Überlebenswillen geprägt war.

Der Kolonialismus, der weltweit zu beklagen ist, bezieht sich auf den gesamten Erdball und er lässt sich nicht auf Europa als Kontinent der Urheber reduzieren. Auch die Araber kolonisierten in Südostasien und auch  Japan gab sich die zweifelhafte Ehre in China. Und auch heute wird kräftig kolonisiert, doch diese Betrachtung hat später zu folgen. Entscheidend ist die ungeheure Gravität, mit der das europäische koloniale Erbe bis heute die internationalen Beziehungen belastet. Und es ist an der Zeit sich klarzumachen, dass die aus dem heutigen Europa an die Welt gerichteten Appelle nichts fruchten und in der Regel das Gegenteil dessen bewirken, was sie zu bewirken suchen.

Um nur zwei Bespiele zu nennen: Wie verrückt ist es eigentlich, einem Land wie Indonesien, in dem 250 Millionen Menschen leben, dass eine Ost-West-Ausdehnung von 5.500 Kilometern hat und in dem ungefähr 200 Ethnien mit unterschiedlichen Sprachen leben, dessen Mehrheit Muslime sind, das aber Religionsfreiheit gewährt, das im nächsten Jahr seinen 70. Unabhängigkeitstag feiern wird und das vorher 300 Jahre durch die Niederländer durch ein ausgeklügeltes Korruptionssystem kolonisiert war, Korruption vorzuwerfen? Und wie seriös ist es, China, das in zwei Opiumkriegen nicht nur besiegt wurde, sondern dessen Bevölkerung systematisch, massenhaft und durch Anwendung von Gewalt in die Drogenabhängigkeit gezwungen wurde, von einer Säule Europas, dem Königreich von Großbritannien, gegen das das Drogenkartell von Medellin wie ein Kindergeburtstag wirkt, wenn diesem China heute vorgeworfen wird, es stelle sich aus niedrigen, ökonomischen Gründen gegen eine nachhaltige Entwicklung?

Wer die eigenen Taten vergisst, läuft nicht nur Gefahr, alte Fehler zu wiederholen. Zudem haben sich die Verhältnisse auf dem Globus geändert. Und zwar gewaltig.