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Auf dem Grund der Weltgeschichte

Miles Davis. Kind of Blue

In seinem Buch Kind of Blue. Die Geschichte eines Meisterwerks erzählt der Autor Ashley Kahn die Geschichte von einer Party in San Francisco. Die Gäste sind in guter Laune, es geht hoch her und irgendwann ziehen die Unentwegten noch um den Block. Dann schlägt einer der Gruppe vor, noch zu ihm nach Hause zu gehen, um weiter zu machen. Dort angekommen, will einer unbedingt Kind of Blue von Miles Davis hören. Der Gastgeber durchwühlt seine Plattensammlung und stellt bedauernd fest, dass er das Album verliehen hat. Dann sagt ein anderer Gast, kein Problem, verlässt die Wohnung und klingelt bei den Nachbarn. Grinsend kommt er zurück und hat das Album in der Hand! Kind of Blue, der Markstein des modernen Jazz überhaupt, gehört längst zu den Standards metropolitaner Urbanität.

An nur zwei Tagen im Frühjahr 1959, nämlich am 2. März und am 22. April, spielte Miles Davis in einer alten Kirche, die zu einem Studio umgebaut worden war, in Manhattans 30. Straße zusammen mit John Coltrane, Gil Evans, Cannonball Adderley, Paul Chambers und Billy Cobb ein Album ein, das die Jazzgeschichte revolutionieren sollte. Davis zahlte den Mitspielenden streng nach den Tarifen der Musikergewerkschaft pro dreistündiger Session 48,50 Dollar. Nie wieder hat ein derart lapidarer Ansatz weltweit fundamentalere Folgen gehabt wie dieser und nie wieder hat ein Musiker so cool seine Konzeption begründet wie Miles Davis, in dem er sagte, es sei darauf angekommen, so zu spielen, wie es noch nicht gemacht worden war.

Das erste Stück, So What, ist folglich als eine Referenz an die Nonchalance der futuristischen Konzeption zu werten, die durch ihre Einfachheit einfach besticht und in ihrer formalen Beschreibung nicht erahnen lässt, mit welchen Traditionen gebrochen wurde. Bill Evans beschrieb das Stück als eine „einfache Figur, die auf 16 Takten in einer Skala, 8 in einer anderen und noch einmal 8 in einer ersten beruht und an eine Einleitung durch Klavier und Bass in freiem rhythmischen Stil anschließt.“ Der freie rhythmische Stil allerdings, den vor allem Coltrane und Adderley ausfüllen, hat einer Formgebung den Raum verschafft, der bis heute sämtlichen Musikschulnachbarschaften auf dieser Welt den Verstand raubt. Egal, ob bei Freddie Freeloader, Blue in Green, All Blues oder Flamenco Sketches, Evans beschrieb die mathematisch-harmonischen Skelette und überließ den Solisten das Einhauchen eines Lebens, das die Individualität dieser Stücke ausmachte.

Miles Davis war es, der das Ensemble zusammengestellt und er wusste, warum er ausgerechnet diese Musiker zu sich geholt hatte. Bei dem großen Wurf in die Zukunft, der rhythmisch akribisch geplant und von seiner tonalen Formgebung zu Ende gedacht war, kam es nur noch darauf an, mit ästhetischer Qualität und technischer Brillanz die Chuzpe freizusetzen, den Weg zur Vollendung selbst frei zu suchen. Das gelang derartig genial, dass das Projekt den Verlauf annahm, den die Historie ihm heute bescheinigen muss.

Kind of Blue ist in seiner Gesamtheit zu einem globalen Standard geworden, der, egal in welchem sozialen und kulturellen Kontext, die Inspiration der Hörerschaft in ungemein produktive Welten führt. So alt das Album heute ist und sooft man es auch gehört haben mag, es ist nie langweilig oder berechenbar, sondern immer wieder in der Lage, zu verblüffen und zu entführen. Kind of Blue liegt schon lange auf dem Grund der Weltgeschichte, und oben, an den Strömungen des Meeres, kann man seine Konturen immer noch erkennen.

Besessen und jenseits aller Maße

John Coltrane. Giant Steps

Im Frühjahr 1959 war die Zeit reif für eine neue Revolution. Im April dieses Jahres hatte Miles Davis mit seinem Quintett, dem auch John Coltrane angehörte, in nur einer Woche das legendäre und bis heute unerreichte Album Kind of Blue aufgenommen und damit dem die Jazzwelt bereits auf den Kopf gestellten Bebop die finalen Grenzen aufgezeigt und mit der neuen Form des modalen Jazz neue Horizonte eröffnet. Nur einen Monat später, im Mai, ging besagter John Coltrane mit einer eigenen Formation ins Studio und nahm seine erste Platte für das Label Atlantic auf. Der Name war Programm und Fanal zugleich. Mit Giant Steps vollzog John Coltrane einen grandiosen Wandel der Spielweise. Das, was der Musiker auf diesem Album zum Besten gab, gilt bis heute als das Maß eines jeden Tenorsaxophonisten. Und zwar eines, das heute, mehr als fünfzig Jahre danach, nur wenige erreichen.

John Coltrane, der Maniak, der seine Musik lebte und dabei verbrannte, der das 41igste Jahr nicht überlebte, schlug mit damals 33 Jahren eine neue Seite des Jazz auf, die den Raum öffnete für eine andere Dimension der Interpretation. Jenseits der bekannten Skalen und Akkordfolgen entfleuchte er den bekannten Markierungen mit deutlichen Akzenten, deren Intervalle er mit wieselflinken Skalierungen und melodiösen Exkursen ausfüllte, um zu den standardisierten Räsonnements zurückkehren zu können. Mit insgesamt sieben Titeln, von denen wiederum 5 Alternate Takes auf dem Album vorliegen, schuf er ein Programm an Blaupausen, die jeden übenden Meister bis heute durch ein Feuerbad der Anstrengung gehen lassen.

Giant Steps, nach dem das Album benannt ist, beginnt mit einer tonalen Folge, die, analog zu vielen Motiven des Bebop, eine schlichte Struktur generiert, die durchbrochen wird von rasenden Soli, die die Akkorde in neue Beziehungen zueinander setzten und das Gemächliche der riesenhaften Schritte in ein Chaos stürzt, das den Horizont des Gedachten in seiner Komplexität erahnen lässt. Cousin Mary beginnt nach dem gleichen Muster, überzeugt danach allerdings nicht durch höllisches Tempo, sondern durch eine Lehrstunde über improvisatorische Melodieentwicklung. Countdown, ein ungewöhnlich kurzes Stück, beginnt mit einem kurzen Solo des Schlagzeugers Lex Humphries, der sich dann zurücknimmt und ein rasantes Tempo mit den Becken hält, um Coltrane für eines seiner später so typischen Soli ein Maß zu bieten, das der Hörer braucht, um sich rückversichern zu können, dass überhaupt noch eine Bemessung möglich ist. Das folgende Spiral ist von der Bauweise ähnlich wie Giant Steps und Cousin Mary, jedoch belässt es Coltrane bei lyrischen Hinweisen, die symptomatisch sind für die große Fähigkeit der modalen Spielweise zu tiefer Melancholie. Syeeda´s Song Flute zitiert das melodisch Infantile des Bebop, um es modal zu hinterfragen. Naima, die einzige Ballade, deutet an, was der spätere Coltrane an Schwere und Stille produzieren konnte. Hier überzeugen auch die Erklärungen Wynton Kellys am Piano und die Akzentuierungen Paul Chambers am Bass. Mr. P.C., das letzte Stück, wirkt wie eine atemberaubende Suche nach dem finalen Ton, der sich dann nur entpuppt als eine Eröffnung zu neuen Wegen.

Coltranes Giant Steps ist ebenso revolutionär wie Davis´ Kind of Blue. Es zeigt das Potenzial eines außergewöhnlichen Musikers, der in den kommenden acht Jahren, die er noch zu leben hatte, noch weitere Innovationen wie die Öffnung zum Free Jazz in Angriff nehmen sollte. Coltrane sprengte jedes Maß, auch das, welches er selbst irgendwann gesetzt hatte.