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Vom Schtetl in die Neue Welt

Joseph Roth. Hiob

Was macht ein Mann, der in einem schäbigen Pariser Hotel sitzt, in dessen Nebenzimmer seine Geliebte liegt und sich in das Reich des Wahnsinns schleicht? Er betrinkt sich und schreibt in manischer Weise einen Roman, in dem er alles verarbeitet, was sich in seiner eignen Biographie an Bedrückung und gefühlter Verfluchung angesammelt hat. Joseph Roth schrieb seinen Roman Hiob in großer Verzweiflung und setzte in ihn alles, was an biblischer Hoffnung zur Verfügung stand. Hiob, so der Titel des 1930 erstmals erschienen Romans, wird in die Zeit des ersten Drittels des 20. Jahrhunderts entführt und er liefert das Regiebuch für die Geschichte des armen jüdischen Lehrers Mendel Singer und seiner Frau Deborah.

In einem galizischen Dorf, genau der Gegend, aus der Joseph Roth selbst stammte, das mal russisch und mal polnisch war, spielt die Geschichte dieser unglückseligen Familie, die letztendlich sich und alle Hoffnung verlor. Der erste Sohn geht, entgegen der Vorschriften des orthodoxen Glaubens, zum Militär, der zweite flieht nach Amerika, die Tochter treibt es mit Kosaken und Menuchim, der Nachzügler, ist ein krankes und zurückgebliebenes Kind. Entgegen der Weissagung des Rabbis, der Deborah rät, ihn nie zurückzulassen, denn ihm stehe nach einem langen Prozess der Heilung Großes bevor, folgt die Familie dem erfolgreichen Sohn nach Amerika und lässt das Kind und ihre ostjüdische Identität hinter sich.

Mendel Singer und seine Restfamilie treffen auf die Moderne, auf das große und erfolgreiche Amerika. Dort geht es ihnen gut, bis alles zerfällt. Bis auf Mendel Singer sterben alle oder sie verfallen dem Wahnsinn. Endlich, als Mendel Singer allein und verloren in Manhattan seinem Gott zürnt und auf den Tod wartet, erscheint der zurückgebliebene Sohn als erfolgreicher Musiker in der Millionenmetropole, findet seinen Vater und bringt dem, wieder, in einer schäbigen Stube sitzenden Mann die Hoffnung, das Licht und seinen Gott zurück.

Der Roman ist ein Dokument akribischer Beobachtung, es ist ein Meisterwerk der vorwärtsstrebenden Handlung, das in seiner Dynamik an die Prosa von Heinrich von Kleist erinnert, und eine präzise Beschreibung zwei sich widersprechender Welten. Das Schtetl aus dem Osten und die Glitzerwelt des Westens stehen sich gegenüber. Die Dramaturgie entsteht durch die Bewegung der Familie, die der einen Welt entrinnt und in der anderen versucht, Fuß zu fassen. Das kann nicht gut gehen und darin ist das große Dilemma zu sehen, in dem sich auch der Autor befand. Die Tradition geht unter und in Vergessenheit, die Moderne setzt sich durch, mit Kälte und logischer Konsequenz. Wer das überlebt, der muss brechen, brechen mit seiner eigenen Identität. Was folgt, ist die Überraschung, dennoch zu keiner neuen Identität kommen zu können. Sie gehen unter, alle, die der Illusion gefolgt sind, es könne gelingen. 

Alles, was bleibt, ist der Rückgriff auf die Tradition und der Glaube an die Bestimmung, die aus ihr entspringt. Auch das ist eine trügerische Hoffnung, zum Schluss bleibt nichts als das Scheitern, es sei denn, die Hoffnungsschimmer der eigenen Spiritualität lassen eine gutes Ende voraussagen, und wenn es nur in einer erzählten Geschichte existiert. 

Die Verzweiflung und der Rausch, mit all seinen Höllenqualen, waren der Treibstoff für dieses Narrativ Joseph Roths, das in dem Roman Hiob sehr präzise, kalt und dennoch empathisch eine verlorene Welt beschreibt. 

Zukunft

Die Frage ist einfach. Wann machen sich Menschen Gedanken über die Zukunft? Die Motive, über das, was zeitlich vor ihnen liegt, nachzudenken, sind unterschiedlich. Es kann, im negativen Fall, etwas mit Befürchtungen zu tun haben. Wenn bestimmte Entwicklungen so weiter gehen wie bisher, dann kann das schlimm enden. Vom Grundsatz genauso berechtigt, wie die noch zu erwähnenden positiven Impulse, handelt es sich bei der negativen Überlegung um eine in Deutschland sehr ausgeprägte Variante.

Positiv inspirierte Überlegungen über die Zukunft entspringen nicht selten neu entdeckten Möglichkeiten. Technische Innovationen haben immer wieder dazu inspiriert, vor allem jene, die mit der Erhöhung des Tempos und der Überbrückung von Raum zu tun hatten, wie Ballons, Eisenbahnen, Flugzeuge und das Telefon. Das lange Zeit allerdings am weitesten verbreitete Motiv, sich die Zukunft mit angenehmen Konnotationen auszumalen, war die Kritik an den unhaltbaren Zuständen der Gegenwart. So entstanden die Religionen, so entstanden die Befreiungstheorien und sie strebten nach einer Umwälzung der bestehenden Verhältnisse und einer gerechteren Welt in der Zukunft.

Vor allem die Moderne hat zwei Quellen, die zum Nachdenken über die Zukunft anregen, immer wieder gespeist. Sowohl ist die Moderne so dicht an technischen Innovationen wie keine andere Epoche, als auch eine historische Periode schnell wechselnder sozialer Konstellationen, bei denen es immer große Kohorten von Verlierern gibt. Letztere reflektierten eine andere Zukunft. Die Dualität von technischer Innovation und sozialer Revolte hat die Moderne zu einem Labor von Zukunftsmodellen gemacht, wie es vorher historisch in dieser Dimension noch nicht vorgekommen ist.

Das Eigentümliche, mit dem wir momentan konfrontiert sind, ist das Versiegen positiv konnotierter Zukunftsvisionen mit dem Ende des Kalten Krieges, mit der Wiedervereinigung Deutschlands, mit dem Siegeszug der Globalisierung, mit dem Primat der Finanzinteressen vor der Politik. Das ist insofern markant, als dass in dieser Zeit die Digitalisierung, die historisch revolutionärste technische Möglichkeit, das Tempo zu maximieren und Räume zu überbrücken, ihren Siegeszug unternahm. In anderen Zeiten hätten die Zukunftsvisionen Inflation gehabt. Die sehr schnelle Anwendung dieser Technologie im militärischen Komplex hat allerdings die bereits existierenden Schreckensvisionen von einer pervertierten Menschheit in den Schatten gestellt.

Mit den historischen Ereignissen, die die USA als alleinige Supermacht, zumindest für eine kurze Periode, übrig ließen und der systematisch pervertierten kommunistischen Befreiungsideologie in der Sowjetunion trat ein Zustand ein, in der sich die existierende Macht nicht mehr glaubte legitimieren zu müssen und die an ihr existierende Kritik sich schamvoll in den dunklen Winkel verzog. Was folgte, war ein rauschhaftes Gelage des Finanzkapitalismus, dessen Ergebnisse sich im Jahr 2008 bereits andeuteten und dessen diabolisches Spiel noch nicht zu Ende ist.

Gegenwärtig befinden sich die Gesellschaften, die dieser Machination unterlagen, noch im Schockzustand. Wie benommen suchen sie, suchen wir alle nach Erklärungen über die rasante Verwahrlosung der Verhältnisse, die durch blanke Gier am besten beschrieben sind und die nichts mehr mit dem zu tun haben, was als soziale Räson bezeichnet werden könnte. Noch werden die Mechanismen, die zu diesem Zustand geführt haben, dechiffriert, noch wird nach Schuldigen gesucht. Dem wird allerdings mit einer nahezu als Gesetzmäßigkeit zu bezeichnenden Sicherheit auch die Periode folgen, in der von einer anderen Form der Zukunft gesprochen wird. Der Geist der Utopie wird wieder auferstehen und das Prinzip Hoffnung wird zurückkehren.

Living in the Past

Das mit der Modernität ist so eine Sache. Unzählige Definitionen konkurrieren miteinander und es könnte gegensätzlicher nicht zugehen. Fest steht, dass mit der Moderne die Bewertung derselben einherging. Diejenigen, die von der rasanten Entwicklung des wissenschaftlich-technischen Fortschritts, der Allzugänglichkeit von Wissen und der Gewerbefreiheit profitierten, interpretierten die Moderne als das Endziel der Gattung, und diejenigen, die Privilegien verloren oder der messerscharfen Konkurrenz nicht standhalten konnten, verfluchten sie von Anfang an. Seit langem, spätestens seit dem, was Adorno und Horkheimer in ihrer Schrift „Die Dialektik der Aufklärung“ benannt hatten, gilt die Moderne als eine bereits historische Epoche, die potenziell Grausames wie Befreiendes hervorbringen konnte und die vorbei ist. Was wir heute durchleben, ist zwar noch umstritten, aber die Moderne mit ihrer großen Erlösungsbotschaft ist es nicht mehr, aber modern, so das gemeinsame Urteil aller, modern sind die Zeiten immer noch.

Ja, es ist widersprüchlich, und ja, an dem Begriff der Modernität scheiden sich immer noch die Geister. Für die einen ist es eher eine Denkweise, die sich in den radikalen, aber toleranten Kategorien der Aufklärung bewegt. Für die andern ist es die sich ständig revolutionierende Technik, die mit ihren Halbwertzeiten atemberaubende Erneuerungen mit sich bringt. Fest steht, dass zu viel polarisiert wird, und das Maß zwischen technischer Machbarkeit und Vernunft eine zu geringe Rolle spielt. Der Mensch in der Moderne an sich ist ein überfordertes Rudiment aus dem Dreißigjährigen Krieg, das sich anmaßt, mit elaborierter Technik Prozesse steuern zu können, deren Ende offen ist. Die Offenheit wiederum hält es nicht aus, deshalb wird aus der Steuerung noch ein besonderes Desaster.

Aber die Aporien der Moderne sind bekannt, und es wird noch vieler Erfahrungen und glücklicher Umstände bedürfen, um sie und ihre Folgeperioden vernünftig beurteilen zu können. Was jedoch heute bereits gelingt, sind bestimmte diagnostische Versuche auf bestimmte konkrete Erscheinungen. So schnell, wie die Technik entwickelt wird und diese auf die konkreten Lebens- und Arbeitsumstände wirkt, genauso schnell werden Theorien geboren, die die Menschen auf die konkreten Existenzbedingungen einschwören sollen. Vor allem die Managementtheorien sind ein unerschöpflicher Fundus für Erkenntnisse über das Verhältnis von Produktionsbedingungen zu den in ihnen zu beobachtenden menschlichen Unzulänglichkeiten.

Als versucht wurde, durch Regulierung und Bürokratisierung der Dynamik Herr zu werden, kam der Zeigefinger mit der Propagierung des Lean Management, als zu sehen war, dass die wachsende Komplexität der Prozesse dazu führte, die partikularen Interessen in den Vordergrund zu schieben und eine Eigendynamik zu entwickeln, wurde mit dem Management By Objectives daran gemahnt, die Ziele nicht aus den Augen zu verlieren. Ein ganzer Wald von Theorien durchzieht die jüngere Geschichte, und alle beschreiben eher die Defizite, an denen die Entwicklung leidet, als dass sie analytisch eine Lösung böten. Sie wirken eher wie Appelle an die Vernunft, als Konzepte für ein anderes Vorgehen.

Der Appell, der momentan als jüngste Theorie durch die Werkshallen, Büros und Labors hallt, ist der der Agilität. Und wenn ein Theorem diagnostischen Charakter hat, dann ist es dieses. Es appelliert an die Beteiligten, durch Aktivität und Impulsivität die Arbeit zu bereichern und die Prozesse voran zu treiben. Wenn so etwas gefordert wird, dann scheint es nicht mehr präsent zu sein. Das ist der eigentliche Befund. Produktive Prozesse erfordern prinzipiell agile Subjekte, sonst sind sie nicht produktiv. Aber die zur Theorie erhobene Tautologie macht deutlich, dass die Konstellationen eher so sind, dass die Subjekte zu sehr dominiert werden von Faktoren, die menschliche Kreativität unmöglich machen. Und das wäre alarmierend.