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Nachhaltigkeit? Volle Läden und kein Geld!

Mal ehrlich, zu welchem Urteil muss man kommen, wenn ein großes und mächtiges System nach einer zweimonatigen Krise von einer existenziellen Bedrohung spricht? Merkwürdig, in einer Zeit, in der bei keiner Planung, bei keiner qualitativen Bewertung und bei keinem Werbeslogan der Terminus der Nachhaltigkeit fehlen darf, wird nun von dem drohenden Tod durch den Lockdown gesprochen. Bei der Wirtschaft wie bei Institutionen, bei den vielen kleinen Organisationen und bei den Millionen Individuen, die sich irgendwie so durchgeschlagen. Bei letzteren, die auch immer wieder einmal unter dem ekelerregenden, arroganten und verunglimpfenden Begriff des Prekariats figurieren, bei ihnen wussten immer alle, dass ihre Existenz mit Nachhaltigkeit nichts zu tun hatte. Das hat die neuen, ökologisch getunten Eliten nie interessiert. Wahrscheinlich, so sei die zynische Deutung erlaubt, um sich den schönsten Knall bis zum Schluss aufzuheben. Doch das steht auf einem anderen Blatt.

Jetzt, nach zwei Monaten, wo die Produktion wieder hochgefahren wird und die Läden wieder öffnen, tönt es von überall her, wie schwer es alle getroffen hat. Nicht, dass das in Abrede gestellt werden sollte! Denn viele hat es wirklich hart getroffen. Das, was in der ökonomischen Betrachtung als Kosten bezeichnet wird, sind die Faktoren von Hilfe, die man braucht, um etwas zu bezwecken, die man aber selbst nicht hat. Folglich muss man sich diese Leistung kaufen. Und wenn diese Leistungen in der Stellung toter Gegenstände wie einem Laden, einer Fläche oder einer Grundversorgung mit Energie oder mit Instandhaltung zu tun hat, dann muss auch dafür bezahlt werden, wenn die Menschen, die das normalerweise in Anspruch nehmen, zuhause bleiben und gar nicht erscheinen. 

Es war zu hören, dass es Hausbesitzer gab, die darauf verzichteten, von der Evelyn mit ihrem Frisiersalon die Miete trotz des Lockdowns einzufordern. Ganz im Gegenteil: sie stundeten oder  erließen gar die Forderungen, weil man sich seit Jahren gut kennt und immer gut verstanden hat. Und es gab Kunden, die bei den Händlern oder Dienstleistern, mit denen sie seit langer Zeit verkehrten, gegen Cash Gutscheine kauften, die auf die Zukunft wirken. Das sind übrigens die schönen Geschichten der Krise, die jedoch im kollektiven Katastrophenmasochismus zumeist untergingen.

Für alles jedoch, was in großem Rahmen und anonym, d.h. von Gesellschaften ohne Geruch und Gesicht verhandelt wird, gilt das nicht. Dort liefen die Kosten weiter, und das bei ausbleibenden Verkäufen. Das ist bitter. Und dass aus diesen Sphären jetzt nach dem Staat gerufen wird, ist eingeübt. Denn wenn es defizitär wird, fordert man dort den Staat, wenn die Geschäfte gut laufen, dann pocht man aufs Private. Und jetzt, in diesem Augenblick, ist zu beobachten, dass in diesen Branchen die Gelegenheit genutzt wird, um in großem Umfang zu rationalisieren. Das ist einerseits klug, andererseits sozial verhängnisvoll, weil es Arbeitsplätze kosten wird. Fluglinien und Kaufhausketten sind bereits ausgerufen, Produktionsstätten werden folgen.

Was, bei allem Respekt gegenüber dem Komplexen, stutzig machen sollte, ist die Tatsache, dass trotz des weltweiten Stillstandes des wirtschaftlichen Treibens kein einziger Mensch nicht versorgt werden konnte, zumindest nicht wegen fehlender Kapazitäten. Höchstens wegen fehlender Liquidität der Betroffenen. D.h. die Welt verfügt über ein immenses Depot an Waren und Leistungen, was fehlt, ist die Liquidität bei einer immensen Zahl von Menschen, die einen Teil dieser Leistungen und Waren brauchten. Volle Läden und kein Geld! Das ist etwas, das an der Verteilung und Verfügbarkeit nicht stimmt. Und wenn alles, was zur Herstellung dieser Leistungen und Waren erforderlich ist, mit einer Nadel genäht ist, die bereits nach zwei Monaten verglüht, dann ist es höchste Zeit, sich darüber Gedanken zu machen, wie diesem Affront gegen die Nachhaltigkeit begegnet werden kann.

 

Von Selbsterfüllung und Überleben

Augenhöhe, Wertschätzung, Achtsamkeit, Nachhaltigkeit, Wertegemeinschaft: im politischen Diskurs wie im Arbeitsleben der bundesrepublikanischen Gesellschaft dominieren momentan Begrifflichkeiten, die aus der eigenen Historie erklärlich sind und vieles von dem widerspiegeln, was sich zumindest in der Mittelklasse in den vergangenen Jahrzehnten entwickelt hat. Im Hinblick auf die Bevölkerungsteile, die im täglichen Existenzkampf stehen, dürften diese Kategorien graue Theorie sein. Und wir reden von mindestens 10 Millionen Menschen. Zugegeben, das ist ein Schätzwert, gehen wir jedoch von einer realen direkten Arbeitslosenzahl von ca. 3,3, Millionen aus und ca. 7 Millionen, die als unterbeschäftigt gelten, also denjenigen, die von ihrem Verdienten nicht leben können, sind wir bereits über zehn Millionen. Und bei der Betrachtung der Weltereignisse, die gekennzeichnet sind von Naturkatastrophen, Kriegen und daraus resultierenden Migrationsbewegungen, dann dürfte schnell klar sein, inwiefern Augenhöhe und Wertschätzung, Achtsamkeit etc. Werte sind, die momentan globale Relevanz genießen.

Dass den Globus Krisen überziehen, ist kein Novum. Dass die Menschheit diese bisher alle in ihrer eigenen Geschichte überlebt hat, lag an schlichtem Überlebenswillen und der Bereitschaft, sich gegen das Übel entgegenzustellen. Die drei großen, immer wiederkehrenden Plagen waren Hungersnöte, Krankheiten und Kriege. Dank einer mächtigen Zivilisationsentwicklung sind die ersten beiden Faktoren de facto Gefahren, die vermieden werden könnten, griffe die Menschheit auf die Mittel zu, die sie als Kollektiv bereits besitzt: Es gäbe genug Nahrung für alle, würden die Produktionsweisen und Güter disseminiert und es gäbe die Chance, große Epidemien zu verhindern, würden die Mittel von denen bereit gestellt, die sie entwickeln und inne haben. Beides gelänge nur, wenn sich die sozialen Rahmenbedingungen um die Katastrophe herum verbesserten: gute Regierungsform statt Korruption, Räson statt Gier.

Lediglich eine der immer wiederkehrenden Katastrophen ist quasi in der historischen DNA des Homo Sapiens vorhanden. Es handelt sich um den Krieg als Mittel der Konfliktlösung. Momentan wurden wir wieder Zeugen, wie die unterschiedlichen Interessen der Welt, die geleitet sind von Vormachtstreben, Ressourcenbeherrschung und Marktbesitz, alles, was das humane Kollektiv seit dem letzten Weltkrieg an Räson gefunden hatte, wieder zu schreddern. Das Fazit: Es gelingt hervorragend. 

Sehen Sie genau hin: diejenigen, die in ihrer politischen Rhetorik fließend von Wertschätzung und Nachhaltigkeit sprechen, beherrschen ebenso die militärische Eskalationsterminologie. Das mag man Rollenkompetenz nennen, aber es ist auch nicht ganz abwegig, einen Begriff zurück ins Leben zu rufen, der seit dem Kalten Krieg aus dem Vokabular verschwunden war. Es ist der des Doppelzünglers und bezeichnet jene, die dazu in der Lage sind, morgens von Wertschätzung und Work-Life-Balance in der Bundeswehr zu reden und die aus Afghanistan zurückkehrenden traumatisierten Soldatinnen und Soldaten totzuschweigen und nachmittags neue Kriegsdrohnen zu bestellen. Da mutiert der Homo sapiens schnell mal zum Reptil, und da wird es Zeit, sich an die Realitäten zu gewöhnen.

Denn die eingangs genannten Begriffe und mit ihnen bezeichneten Werte sind Fremdworte für die französischen Gelbwesten wie für die Menschen in Venezuela, sie helfen nicht den Umweltopfern in Brasilien und nicht den ersaufenden Migranten im Mittelmeer. Gut gemeint sind die Begriffe vielleicht einzuordnen als Seufzer der geschundenen Seele, als ein religiöser Strohhalm, weil in realiter der Humanismus längst auf der Straße liegt und verblutet. Nicht Selbsterfüllung, sondern Überleben steht auf dem Programm. 

Vom Sinne der Konsistenz

Wenn ein Begriff häufig gebraucht wird, kann das verschiedenes bedeuten. Entweder hat er Konjunktur, weil sich etwas im Sinne des Begriffes bewegt. Oder er wird häufig gebraucht, weil seine Substanz in starkem Maße vermisst wird. Und so ist zu beobachten, dass man es noch lange nicht mit Strategen zu tun hat, wenn viel über Strategie geredet wird. Es kann das Gegenteil bedeuten. Manchmal scheint es, als bestünde überhaupt keine Vorstellung von der Zukunft und ihrer Bewegungsrichtung, wenn andauernd von Strategie gesprochen wird.

Ein anderer, von der Inflation demolierter Begriff, ist der der Nachhaltigkeit. Immer, wenn von der Nachhaltigkeit gesprochen wird, stellt sich die Frage, ob die gelebte Realität diesen Begriff wertschätzt oder ob nicht Ressourcenmissbrauch und Verschwendung den Alltag ausmachen und die Betonung der Nachhaltigkeit nicht einen wünschenswerten, aber leider nicht gelebten Zustand beschreibt.

Es ist also Vorsicht geboten, wenn Begriffe verwendet und vor allem im politischen Diskurs sehr geliebt werden. Oft beschreiben sie Wünsche, selten die Realität. Ein Begriff, der zu dieser Gattung zu zählen ist, ist der der Konsistenz. Und es empfiehlt sich immer, nach der Etymologie, d.h. nach der begrifflichen Herkunft von Wörtern zu fragen. Das hilft meistens, um den Sinn tiefer zu entschlüsseln, als es der tägliche Sprachgebrauch hergibt.

Konsistenz ist im ursprünglichen Sinne die Zusammenstellung oder Zusammensetzung eines Stoffes. Sie garantiert seine Existenz wie Haltbarkeit. Im übertragenen, politischen wie kulturellen Sinn, handelt es sich bei Konsistenz um Logik, Schlüssigkeit und Folgerichtigkeit. Wenn etwas konsistent ist, dann kann es nachvollzogen werden, weil es durch eine innere Logik überzeugt und dadurch einen eigenen Charme vermittelt.

Nun ist das Diskursive das Eine. Jenseits der verbalen Kommunikation existiert die Welt der konkreten Aktion. Wenn letztere nicht mit den verbalen Versicherungen, Ankündigungen oder Verpflichtungen korrespondiert, dann entsteht bei denen, die dem Ganzen zunächst einen Vertrauensvorschuss gaben, in der ersten Phase Enttäuschung und in der zweiten Phase Misstrauen.

Als Replik auf den anwachsenden Populismus wird oft argumentiert, die Welt sei komplex geworden und einfache Wahrheiten seien kaum noch vorhanden. Das mag im einen oder anderen Fall zutreffen, aber es ist mitnichten so, dass bestimmte Wirkungszusammenhänge nicht mehr erklärt werden könnten. Das widerspräche dem, was Wissenschaft und Technik an radikaler Faktizität täglich produzieren.

Was viele Menschen bewegt und abschreckt, ist die zunehmende Unfähigkeit, Entscheidungen zu treffen und Verantwortung zu übernehmen. Das ist relativ einfach zu erkennen und mit der Komplexität der Welt nicht zu entschuldigen. Es ist, so die Vermutung, die scheinbar praktische Folgenlosigkeit des eigenen Handelns und das allgemeine Fehlen von Haltung. Praktische Folgen hat dieses Muster bereits in internationalem Maßstab, und die mangelnde Haltung wird viele die Existenz kosten.

Der Begriff der Konsistenz beschreibt in diesen Tagen einen Mangel. Und zwar in zweifacher Hinsicht: Er umreist die mangelnde Logik bei der Konzeptionierung der eigenen Zukunft und er beschreibt die klaffende Diskrepanz zwischen Wort und Tat. Anlässlich der zu beobachtenden politischen Entwicklung in unserem Kulturkreis drängt sich die Vermutung auf, dass die Diskrepanz zwischen der täglich offerierten Welterklärung und dem eigenen Handeln der Fluch dieser Zeit ist. Wo die Konsistenz von Denken und Handeln fehlt, da ist die Glaubwürdigkeit von Politik dahin.