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Der Fußball, das schöne Spiel?

Mein Vater pflegte sowohl seinen Verein als auch den Fußball generell, wenn es darum ging, mit Skandalen, Eklats oder sonstigen Aufregungen von größeren politischen Problemen abzulenken, als Sandmännchen zu bezeichnen. Für alle, denen die Figur nicht mehr geläufig ist: es erschien am frühen Abend im Fernsehen und wünschte den Kindern mit einer Geschichte eine gute Nacht. Und obwohl, oder gerade weil sich der Fußball wie die Gesellschaft radikal verändert haben, ist seine Beobachtung bis heute zutreffend. Immer wieder kam es vor, dass große Turniere, die vor allem in Deutschland Millionen Menschen in ihren Bann zogen, dazu benutzt wurden, Gesetze zu verabschieden, die ansonsten einen heftigen Diskurs oder Widerstand ausgelöst hätten. Aber der Fokus lag auf dem Ball, da wähnte man sich auf der sicheren Seite.

Und immer wieder, jenseits des beobachteten Geschehens, das sei bemerkt, gab und gibt es Stimmen, die den Fußball generell als etwas Überflüssiges betrachten, auf das man gut und gerne verzichten könnte. Wer allerdings die Gesellschaft und die Wirtschaftsweise, auf der sie basiert verstehen will, der hat mit dem Fußball ein gutes Feld der Beobachtung. Angefangen hat das Ganze mit einem Zeitvertreib der gehobenen Schichten. Kohlebarone und Hüttenkönige hatten den Fußball bei ihren Pendants in England schätzen gelernt und brachten ihn mit in andere Länder. Dort kupferten Proletarier als Zaungäste das Spiel ab und kickten mit Schweinsblasen in den Hinterhöfen. 

Bergbau, Schwerindustrie und Industrialisierung trugen zur Verbreitung des Fußballs bei und machten ihn schnell zu einem Paradigma gesellschaftlicher Beziehungen und ihrer Modelle. In den Anfängen brillierten Führungsspieler, die von anderen auf dem Feld bedient wurden, im Laufe der Zeit kamen die Spielgestalter, die Arbeitsteilung war lange das zentrale Thema, bis man zum Teamgedanken und einer Auffassung von dem Spiel kam, dass alle alles können mussten und überall Aufgaben zu erfüllen hatten. Gleichzeitig wurde das Spiel immer schneller, die einzelnen Aktionen verloren an Bedeutung und die Summe der Spiele drängte sich in den Vordergrund. Die Vermarktung nahm zunehmend einen wichtigen Platz ein und sie kulminierte bis zu dem Punkt, der vor einigen Jahren erreicht wurde, als ein  brasilianischer Kicker von einem spanischen Verein zu einem französischen, der im Besitz eines Katarers ist, für das monetäre Äquivalent von einem Airbus den Verein wechselte. 

Große Turniere wie die Weltmeisterschaft werden seit langer Zeit nach Vermarktungsaspekten vergeben. Sie liefern den Ausrichterländern die Möglichkeit, durch große Investitionen ihre Infrastruktur zu modernisieren, durch die Veranstaltung selbst Einnahmen zu generieren und sie begünstigen das Marketing für den Standort. Da viel Geld im Spiel ist, erscheint es nahezu als logisch, dass die Akquise eines solchen Turniers durch große Geldzuwendungen an diejenigen, die in den Gremien Entscheidungen treffen, versucht wird zu erreichen. Korruption ist seit langem eines der Phänomene, welches das Treiben des Fußballweltverbandes überschatten. Das war, als kleiner Hinweis an alle, die sich plötzlich, wie vom Blitz getroffen, den Sand aus den Augen reiben, beim deutschen Sommermärchen anno 2006 nicht anders. 

Man nenne eine andere Sportart, die im Zeitalter der Moderne mehr die Möglichkeiten wie die Unmöglichkeiten, mehr die Faszination wie die Befremdung und den Abscheu gegenüber dem wirtschaftlichen System, aus dem er hervorgegangen ist, vergegenständlicht wie der Fußball. Insofern ist er auch immer ein Spiegel. Vielleicht ist es das, neben dem bewussten Instrumentalisieren des Fußballs als Sandmännchen für das gemeine Volk, was das Entsetzen so in die Gesichter treibt. Ja, heute geht es immer noch um Märkte, Geld und Einfluss, und ja, die Rolle Europas und des Westens insgesamt ist nicht mehr so gewichtig wie einst. Das System ist geblieben, aber die Potenz verschiebt sich nach Asien. Ist das ein explizites Phänomen des Fußballs? Ist er nur ein schönes Spiel? Oder geht es da nicht um viel mehr?   

Una tua erit!

In einer Stadt der Gegend, in der ich aufwuchs, standen oben am Kirchturm, direkt unter der Uhr, die damals für mich noch nicht entschlüsselbaren Worte: Una tua erit. Gemeint waren die Stunden und es hieß, eine wird deine sein. Das ist ein herber Schlag ins Gesicht all derer, die die Vergänglichkeit des eigenen Daseins aus ihrem Bewusstsein gestrichen haben. Der Plan derer, die diese Erinnerung oben an den Kirchturm gemeißelt hatten, war, zumindest für mich, genial. Una tua erit hat dazu beigetragen, nie zu vergessen, dass wir alle nur Gast auf dieser Erde sind. Das große Tabu, das viele Menschen treibt, nämlich diese Gewissheit auszublenden, führt in vielerlei Hinsicht zu sehr skurrilem Verhalten.

Das eine, immer wiederkehrende Phänomen, die Diskussion um die Verantwortung derer, die heute leben in Bezug auf diejenigen, die noch nicht geboren sind, aber auf unsere Generationen folgen werden, hat sich zumindest in die gesellschaftliche Debatte eingeschlichen. Vor einer Generation noch hatten zumindest die Altersklassen der Moderne nie an so etwas wie Vermächtnis im Sinne von etwas Schützenswertem verschwendet. Der Fortschritt, jene ungestüme Metapher, war erhaben über jeden Zweifel und es musste immer darauf hinauslaufen, dass das Vorbrausen in eine immer größere, schnellere, technischere Zukunft automatisch die Generationen der Zukunft beglücken würde. An die Kollateralschäden dachte niemand, bis sie allzu auffällig und zu globalen Problemen wurden. Zumindest wird seit jener Zeit, dem ausgehenden 20. Jahrhundert, über das Phänomen geredet, allerdings zumeist unter falschen Vorzeichen. Da geht es um die Technik an sich und nicht um die Interessen derer, denen sie gehört und die sie beherrschen.

Der größte Affront gegen den Gedanken der Sorge um die Nachwelt kommt allerdings von einer Gruppe, die vorgibt, die Idee aus moralischen Gründen zu pflegen und genau das Gegenteil macht. Es sind jene, die die Staatsausgaben und die damit verbundenen notwendigen Investitionen über alle Maßen drosseln, um Geld zu scheffeln. Begründet wird dieses Vorgehen mit der Vermeidung von Schulden, die man nachkommenden Generationen nicht vererben wolle. Wäre es das alleine, so könnte das Manöver gelingen, nur hat das Argument eine schäbige, eine sehr schäbige Seite: Die Politik, mit der sie die Sanierung der öffentlichen Haushalte zu realisieren sucht, diese Politik nimmt für immer größere Bevölkerungsschichten Lebensverhältnisse hin, die kein Mensch den Nachkommen je wünschen würde. Wer die Würde aus dem Jetzt verjagt, dem kann kein Mensch glauben, dass es ihm um die Würde im Morgen geht.

Und es drängt sich wieder, immer wieder, die Frage auf, in wessen Händen die Zukunft am besten aufgehoben ist. Wenn in der Politik nicht unter dem Aspekt der Zukunft gesprochen wird, dann ist etwas faul. Es kann nicht nur um die Verteilung dessen gehen, was auf dem Tisch liegt und es kann nicht nur um Bedingungen gehen, die man sich jetzt wünscht. Es geht dabei immer um zweierlei, um die eigene Zukunft und um die Zukunft derer, die auf diesem Planeten, in der Gesellschaft leben dürfen und müssen, wenn wir nicht mehr da sind. Das wäre eine Dimension von Politik, die verantwortlich ist. Und es wäre eine Dimension, die neben der ökologischen vor allem von der sozialen Frage geprägt wäre. Denn wer die soziale Frage nicht stellt, macht sich über die Zukunft keine Gedanken.

Und plötzlich war die Dame nackt!

Menschen haben unterschiedliche politische Dispositionen. Das macht Gesellschaften aus und interessant. Uniformität ist ein Zeichen für den Tod des Wettstreits und des regen Austausches. Insofern ist zu begrüßen, wenn sich ein Meinungsbild ergibt, das disparat ist. Disparität alleine jedoch, als Alleinstellungsmerkmal ist ebenso tödlich wie die Uniformität. Gesellschaften, die keinen Konsens mehr haben und keine Kontur entwickeln, sind ebenso auf dem langen Weg nach unten. Daher ist, bei aller Abneigung gegen die eine Version der Verarmung, Vorsicht gegenüber der anderen geboten. Gute Zeiten, um sich den Zustand einer Gesellschaft unter diesem Aspekt anzusehen, sind die, in denen Wahlen bevorstehen. Dann gilt es. Dann zeigt sich, wie die Gesellschaft gestrickt ist. Und es zeigt sich nicht daran, wen die Menschen wählen, sondern für welche Positionen sie sich zu entscheiden glauben und aus welchen Gründen. Und plötzlich ist die Dame nackt!

Einmal abgesehen von der Tatsache, dass ungefähr eineinhalb Monate vor einer Bundestagswahl kaum etwas davon zeugt, dass so etwas wie eine gesellschaftliche Auseinandersetzung über den zukünftigen Kurs geführt wird, ist ein Indiz an sich. Urlaubszeit hin oder her. Wäre emotionale Empörung oder rationale Verwerfung im Spiel, wären Konflikte sichtbarer. So plätschert alles vor sich hin und eine dramatische Botschaft für die Situation ist die, dass die Befürworter für die gegenwärtige Kanzlerin zunehmen, obwohl diese sich im Urlaub befindet und nicht zu sehen ist. Aber genau das trifft den Kern. Die Zufriedenheit mit dem Status quo, der nicht vergehen möge, ist eine Dominante in der Konstellation.

Wie insgesamt festzustellen ist, dass zwei wesentliche Aussagen den politischen Diskurs, wenn er diesen Namen überhaupt verdient, prägen: Eine Seite, wahrscheinlich die Mehrheit, ist mit den Zuständen, die im internationalen Vergleich von gediegenem Wohlstand geprägt sind, zufrieden. Dieser Zustand soll erhalten bleiben und es wird nicht hinterfragt, wie der Wohlstand zustande gekommen ist und wie die Perspektiven aussehen, ihn ohne dramatische Konflikte zu erhalten. Die andere Seite wird präsentiert durch diejenigen, die immer mehr ausgegrenzt werden, deren Perspektiven auf dem globalen Basar nach Indien oder Bangladesh verhökert wurden und die eine gerechtere Teilhabe an dem Wohlstand der anderen reklamieren. Rudimentär machen sich hier und da noch Stimmen breit, die für die eine oder andere Umsteuerung wie bei der Energieversorgung, dem Verkehr oder der Ernährung votieren, andere wiederum plädieren für eine Umsteuerung bei den Besitzverhältnissen, doch da hört der Spaß auf.

Im Wesentlichen ist festzuhalten, dass sich die Diskussion in der Republik um Besitzzustände und Besitzverhältnisse dreht. Es geht darum, das zu behalten, was man hat oder das zu bekommen, was die anderen haben. Es ist eine saturierte Diskussion, die, betrachtete man das Land isoliert, durchaus geführt werden könnte. Aber die isolierte Betrachtung geht nun einmal nicht und die Abhängigkeit von internationalen Beziehungen, die Beteiligung an internationalen Konflikte etc. machen die Diskussion zu einer Geisterstunde, die ohne ihres gleichen ist. Denn beide Seiten, aus unterschiedlichen Motiven, wollen den Zustand so erhalten, wie er ist. Nur ist der fiktiv.

Politik ist das Metier, in dem der Zustand analysiert und über die Zukunft verhandelt wird. Politik ist kein Markt, auf dem Waren verteilt werden und danach gehen wieder alle nach Hause. Diesen Eindruck vermittelt jedoch die gegenwärtige Situation vor den Wahlen. Die Zukunft ist ausgeblendet, weil die Pläne, die da vorliegen, zu schweren Auseinandersetzungen führen würden. Deutsche Waffen auf arabischer Seite im Jemen, dem größten Drama derzeit? Wer will das hören? Dekadenz kommt immer bräsig daher.