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Das ritualisierte Fazit und eine strenge Übung

Es lässt sich nicht vermeiden. Zu jedem Jahresende kommen die Rückblicke. Wenn sie nicht im Privaten oder in der Firma stattfinden, wo diese Übung sicherlich in vielerlei Hinsicht Sinn erzeugt und zu einem Dialog über den Sinn und die Ziele überhaupt anregt, so sind die medial groß aufgemachten Resümees oft eine Katastrophe par excellence. Da werden alle Show- und Talkmaster, derer man habhaft wird, eingespannt, um eine emotionale Mischung aus Freude, Anerkennung, Bestürzung und strunzender Sentimentalität zu erzeugen. Da werden dann Helden gefeiert, die zumeist keine sind, Opfer betrauert, die diesen Status auch nicht verdienen und letztendlich das politische Bild, das man dem Mob gerne vorschreiben möchte, wird auch noch transportiert. Schlimmer geht es nicht, es sei denn, man wartet auf die Ausgabe des nächsten Jahres.

Der Blick zurück kann eine wunderbare Übung sein, um die Konsistenz des eigenen Willens und die Zuverlässigkeit des eigenen Bewusstseins zu überprüfen. Waren Ziele formuliert? Mussten die Ziele korrigiert werden? Warum? Lag es an den Rahmenbedingungen? Ober an der eigenen Unzulänglichkeit? Waren manche Ziele aus einer Täuschung formuliert worden? Wie war die Resonanz der Umwelt auf das eigene Agieren? Wo gab es Zustimmung, wo Kritik? Welche Lernprozesse waren die wichtigsten? Was war als wichtig erachtet worden und stellte sich als banal heraus? Was schien anfangs banal und bekam einen gravierenden Stellenwert? Wo will ich mich als Individuum verbessern? Und wo will ich mir als Individuum mehr Freiheiten zubilligen? Natürlich muss man das alles nicht fragen und beantworten, aber es ist eine spannende Übung. Und jeder, der sich auf sie einlässt, wird davon profitieren.

Nun stelle man sich vor, der Kanon dieser Fragen spielte bei den großen Rückblicken, die unser gesellschaftliches Sein betreffen, eine Rolle! Da würde nicht permanent von Schicksal gesprochen oder eitel mit der Bekanntschaft zu scheinbar wichtigen Verstorbenen jongliert, sondern wirklich einmal kritisch überprüft, was da in einem Jahr passiert ist.

Und das Debakel finge bereits mit der ersten Frage an, ob Ziele formuliert waren. Eine Gesellschaft und das aus ihr heraus agierende politische System, das sich vehement gegen eine Debatte um die Konturen der Zukunft stellt, formuliert keine Ziele. Die gegenwärtige Regierung steht gar für die Formulierung „wir fahren auf Sicht.“ Und dann befinden wir uns bereits in der Logik, die immer größere Dissonanzen und Verwerfungen hervorruft. Denn wer keine Ziele formuliert, der braucht sie auch nicht auf dem Weg korrigieren. Und dann sind die Rahmenbedingungen eben so, wie sie sind. Und nicht formulierte Ziele können auch keiner Täuschung entspringen. Und wie die Umwelt reagiert, das ist mittlerweile eine beliebte Übung in der Nomenklatura, das ist eine Frage der Unzulänglichkeit der Umwelt. Denn wer nicht einsieht, dass es Alternativen zu jedem Handlungsplan gibt, der öffnet sich auch keiner Kritik.

Der Kanon von Fragen, die sich mit einem selbstkritischen Rückblick befassen, findet in der Bewertung der gesellschaftlichen Handlungen keine Anwendung. Und es sei bemerkt, dass das kein Muster ist, wo hier die guten Bürger und dort die böse Politik spielt. Es existiert eine tiefe Spaltung zwischen den Mikrokosmen und dem Makrokosmos Politik, die alle Beteiligten zu verantworten haben. Und das bittere Fazit, das in Bezug auf den Makrokosmos Politik gezogen werden muss, ist, dass weder zweck- noch wertneutrales Handeln in großem Maßstab zu identifizieren ist.

Ich gehe gleich auf einen langen Spaziergang und unterziehe mich der Prüfung. Je strenger die Übung, desto befreiender die Wirkung!