Kürzlich hielt ein von mir sehr geschätzter Psychiater in kleiner Runde ein Referat über das Thema „Verschwörungstheorie“. Obwohl ich ein wenig befürchtet hatte, dass das durchaus wichtige Thema und verbreitete Phänomen unter seinem inflationären Gebrauch in den Sozialen Medien und in der Politik leiden würde, war dieses nicht der Fall. Der Mann wollte der Sache sowohl phänomenologisch als auch neurologisch und medizinisch auf den Grund gehen und landete bei seinem Exkurs zunächst – wen sollte es wundern – bei der Komplexität der Welt. Das ist eine seriös zu nehmende Feststellung, auch wenn sie im politischen Exkurs sehr oft als Totschlag-Argument bemüht wird, wenn andere, nicht konforme Deutungen artikuliert werden. Was aber dann folgte, quasi als mental zu nennende Bedingung und Strategie, um in einer komplexen Welt bestehen zu können, in der nicht jedes Phänomen gleich erklärt werden kann, war die Ambiguitätstoleranz.
Bei der Ambiguität handelt es sich um nebeneinander existierende Phänomene, die nicht unbedingt konkordant miteinander sind, die in ihrer Ko-Existenz verstören können und nicht zueinander passen. Diesen disparaten Zustand tolerieren zu können, ist nicht nur hohe Kunst, sondern auch eine Grundvorraussetzung, um in derartigen Situationen bestehen zu können.
So ist es kein Wunder, dass diese Ambiguitätstoleranz zu einer der wichtigsten Kernkompetenzen für auszusuchendes Führungspersonal ist. Jemand, der nicht in der Lage ist, bei einer größeren Anzahl von Unwägbarkeiten kühlen Kopf zu bewahren und sich trotz brennender Probleme nicht aus der Ruhe bringen zu lassen, die vernünftige, tragfähige Entscheidungen erfordert, fällt durch das Raster bei der Auswahl von geeignetem Führungspersonal.
Eine Assoziation ging mir bei dieser Stelle nicht aus dem Kopf: Wie kann eine materialistische, technokratische Welt, in der permanent gemessen, gewogen und gezählt wird, wie sie wir hier im Westen repräsentieren, gegen die z.B. asiatische Fähigkeit, in der das Balancieren zwischen unterschiedlichen, sich widersprechenden Optionen von Kindesbeinen an zu den täglichen Übungen gehört, jemals ohne die Anwendung von Gewalt bestehen? Sieht man sich den Verkehr zwischen den unterschiedlichen Kulturen der Betrachtungsweise an, der in Form der Außenpolitik geregelt wird, dann offenbart sich das ganze Debakel. Seitens des Westens Drohungen, Ultimaten und Sanktionen, von Ambiguitätstoleranz keine Spur, es sei denn ein kurzfristiger Vorteil drängt sich auf. Von der anderen Seite des Tisches wird das genau registriert und es hat zu dem Abstieg geführt, der momentan weltweit zu spüren ist.
Und andererseits, bei der Betrachtung der hiesigen Akteure, die so gern mit dem Argument der Komplexität daherkommen: wer von ihnen weist ihrerseits oder seinerseits die Voraussetzung einer eigenen Kompetenz von Ambiguitätstoleranz auf? Wer in einem Handlungsrahmen unterwegs ist, der mit dem berühmten „There is no Alternative“ beschrieben ist, sollte das Wort Ambiguität erst gar nicht in den Mund nehmen. So grotesk es erscheint, sind diejenigen, die auf die Komplexität der Phänomene verweisen, selbst in keiner Weise dazu geeignet, mit ihr umzugehen.
Insofern ist der psychologische und psychiatrische Blick auf das Phänomen der Verschwörungstheorie ein wichtiger Beitrag, um das gegenwärtige Handeln im politischen Diskurs einordnen zu können. Der Vorwurf, es handele sich bei anderen Deutungsversuchen um eine krankheitsbedingte Vorgehensweise, entstammt nicht selten aus einer längst pathologisch identifizierten Bestimmtheit. Oder ganz einfach ausgedrückt: wer selbst nicht in der Lage ist, ohne Gewaltausbrüche mit Unwägbarkeiten umzugehen, sollte seine eigene Unfähigkeit nicht auf andere projizieren. Im politischen Diskurs ist es um die Ambiguitätstoleranz schlecht bestellt.