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Die Spaltung der türkischen Communities

Die Entwicklung, die mitten unter uns aktuell stattfindet und von der wir dennoch relativ wenig wissen, ist an Dramatik nicht zu überbieten. Viele von ihnen leben hier seit Jahrzehnten, sie kamen anfangs schlicht als Arbeitsimmigranten, sie blieben, sie holten ihre Familien nach oder sie gründeten welche. Irgendwann waren sie länger hier als in ihrem angestammten Heimatland. Aus Immigranten wurden Mitbürger und irgendwann auch Deutsche mit Pass. So ging es vielen, die einst wegen der Arbeit kamen, aus Italien, aus Spanien und Portugal, aus Griechenland, dem ehemaligen Jugoslawien und dann, als größte Kohorte, aus der Türkei. Letztere waren von Anfang an etwas Besonderes, ihre Sprache wich sehr von den anderen ab und sie beteten zu einem anderen Gott.

Ihr Beitrag zur Entwicklung dieses Landes war und ist enorm, die Besonderheiten derer, die aus der Türkei kamen, verlangten von ihnen immer mehr ab, als dass bei allen anderen Immigranten der Fall war. Sie taten sich bei der Integration schwerer, und die Deutschen taten sich mit ihnen schwerer. Sie blieben, sie waren eine Bereicherung, aber sie behielten aufgrund der Spezifik immer ein besonderes Verhältnis zu ihrem Heimatland. Auch wenn der Pass ein deutscher wurde, die Türkei war dennoch immer die gedachte Rückversicherung bei einem Clash of Civilizations.

Die türkische Community, die genauso existiert wie die der anderen Herkunftsländer und die genauso existiert wie die deutschen Communities in fremden Ländern, diese Community erfährt momentan durch die Radikalisierung der türkischen Regierung einen fundamentalen Wandel. Der Druck auf die in Deutschland lebenden Türken seitens der auf Erdogan fokussierten Regierungspartei AKP ist so groß geworden, dass eine tiefe Spaltung bevorsteht. Die türkische Community in Deutschland besteht aus drei Fraktionen, deren Existenz nicht ohne Wirkung auf die deutsche Gesellschaft bleiben wird:

Diejenigen, die sich zu Deutschland und seinem politischen System bekennen und den Kurs der gegenwärtigen türkischen Regierung ablehnen. Sie werden in Zukunft bedroht und eingeschüchtert werden. Dann diejenigen, die sich bereits haben einschüchtern lassen und die bereit sind, ihr Geld und ihre Infrastruktur durch die Agenten der AKP nutzen zu lassen. Und letztendlich diejenigen, die mehr oder weniger verdeckt auf deutschem Territorium gegen Bürgerinnen und Bürger der Bundesrepublik Deutschland mit überwiegend illegalen Mitteln vorgehen.

Es ist ausrechenbar, dass eine solche Konstellation, wir reden von einer Gruppe von ca. 8 Millionen Menschen, nicht ohne Auswirkung auf das deutsche gesellschaftliche Zusammenleben sein wird. Sollten die erfolgreich unter Druck Gesetzten und Erpressten sowie die auf feindlichem Terrain agierenden Agenten die Oberhand gewinnen, so werde die erfolgreich integrierten Mitbürgerinnen und Mitbürger die ersten Opfer sein. Es würde eine Atmosphäre der Einschüchterung und Verunsicherung um sich greifen und eine Auseinandersetzung um existenzielle Fragen der Demokratie erheblich erschweren.

Deshalb sind die gezielten Attacken seitens der türkischen Regierung auch auf die hier lebenden türkisch-stämmigen Mitbürgerinnen und Mitbürger als eine gezielte Attacke auf die Bundesrepublik Deutschland zu begreifen. Und da hilft dann auch keine Organisationslogik oder Organisationsloyalität mehr. Die Zugehörigkeit der Türkei zur NATO darf in diesem Falle nicht die Diskussion über den wachsenden Terror der türkischen Regierung verhindern, sondern es muss sie sogar beschleunigen. Wer so unterwegs ist, mit dem macht ein Militärbündnis keinen Sinn.

Das Beispiel zeigt, dass die gesamte politische Orientierung im Land den Winden des Zufalls übergeben wird, wenn das unsägliche Spiel mit den doppelten Standards weiter betrieben wird. Die Türkei, so wie sie sich gebärdet, verdient keine mildernden Umstände. Wem sollte das nützen?

Mafiamethoden unter NATO-Partnern

Wir scheinen in Zeiten zu leben, in denen das eine oder andere Klischee, von dem wir vermuteten, es käme aus guten und schlechten Filmen gleichermaßen, sich in der Wirklichkeit als durchaus präsent herausstellt. Manches ist so grotesk, dass es uns bei der ersten Begegnung nahezu lähmt, weil wir einfach nicht glauben wollen, dass es stimmt, was wir da sehen. Doch es nützt alles nichts. Egon Erwin Kisch, der Mythos des rasenden Reporters, hatte den Slogan, der für das, was wir momentan beobachten können, stets parat. Er lautete, nichts ist erregender als die Wahrheit. Treffender geht es nicht.

Eines der Phänomene, von denen wir uns in der Zivilisation Wähnenden glaubten, es gehöre in schlechte Filme und nicht in unseren Alltag, ist das Anschwellen diktatorischer, mafiaartiger Politik. Die Art und Weise, wie sich die Impertinenz dieser Erscheinung darbietet, macht es kaum möglich, die Sinne beisammen zu halten und handlungsfähig zu bleiben.

Eine der wohl Besorgnis erregendsten Erscheinungen in diesen Tagen ist das Abgleiten der Türkei. Das, was politisch beobachtbar ist, folgt einem Muster, das viele Diktaturen vor her auch so angewendet haben, um eine konstitutionelle Demokratie in eine Terrorwirtshaft zu verwandeln. Es beginnt mit der Kriminalisierung der freien Presse, es geht weiter mit der Instrumentalisierung der Justiz, es pflanzt sich fort mit der Verfolgung der Opposition und es kulminiert mit der Etablierung der eigenen kriminellen Handlungen zur Normalität.

Alle genannten Punkte können noch irgendwie politisch verarbeitet werden, aber die Kriminalisierung des Alltags, die löst den größten Schock aus. Mit Erdogans Übergriffen auf deutsche Parlamentarier, die gezielt auf deren reale Bedrohung spekulieren, haben wir es mit gezielter Nötigung zu tun. Das Staatsoberhaupt der Türkei droht Abgeordneten der Bundesrepublik Deutschland, wenn sie eine bestimmte Haltung nicht aufgeben! Das ist der worst case in zwischenstaatlichen Beziehungen, um es einmal vorsichtig zu formulieren. Anders ausgedrückt: Es handelt sich um eine Kriegserklärung! Mafiamethoden unter NATO-Partnern! Stellen Sie sich einmal vor, so ein Verhalten käme aus Russland. Da wäre The Day After das mindeste an Reaktion, was denkbar wäre.

Damit aber nicht genug. Und nochmal zur Erinnerung: Es liegen Morddrohungen gegen Abgeordnete des deutschen Bundestages vor, die auf Erdogans Nötigung zurückgehen. Davon wissen wir. Wir wissen noch mehr, erzählt wird es aber selten: Türkische Mitbürger, die hier leben und noch Besitz in der Türkei haben, werden von den Schergen der AKP aufgefordert, die dortigen Geschäfte an Agenten Erdogans zu übertragen, sonst werde man sie enteignen. So einfach geht das. Und es passiert. Flächendeckend. Und das sind die Methoden der Mafia. Und das ist der Alltag.

Es handelt sich in dem einen wie dem anderen Fall um Kriegserklärungen. Sie entsprechen formal nicht dem Völkerrecht, aber sie sind wirksam und sind gegen die hiesigen Formen des gesellschaftlichen Zusammenlebens gerichtet. Wenn eine Haltung wichtig ist, dann ist es im Falle des barbarischen Verhaltens eines Erdogans folgende: Nötigung und Erpressung sowie andere gegenwärtig in der Türkei verbreitete Formen des staatlichen Terrors rufen massiven Widerstand hervor. Die Regierung der Bundesrepublik Deutschland ist darauf vereidigt, Schaden vom deutschen Volk fern zu halten. Wer sich dort nicht daran hält und sich durch Untätigkeit an dem Gewöhnungsprozess von Terror beteiligt, ist nicht mehr tragbar. Die Zeiten des Untertanenkuschelns sind endgültig vorbei. Während einige unserer Nachbarn bereits mit Leib und Seele bedroht sind, schnarchen andere noch im großen Konsenskino müßig herum!

Gott Kairos und der Völkermord

Die Frage, ob es einen günstigen Zeitpunkt gibt, hängt von dem ab, worum es geht. Die griechische Mythologie brachte den Gott Kairos für diese Frage ins Spiel, der leicht lädiert, mit halbem Schopf durch die Sphäre gleitet, um daran ergriffen zu werden. Das Spiel mit dem rechten Augenblick ist vor allem im Spiel selbst bis zur Perfektion getrieben, allerdings mit einer Illusionsdichte, die kaum zu überbieten ist. Im so genannten wahren Leben ist der richtige Augenblick eine Frage von Intuition, Erfahrung und manchmal sogar nur von Glück.

Was im Leben eines Individuums so gesehen werden kann, ist im Leben eines Volkes oder einer Nation schon schwieriger. Denn trotz aller Erfahrungen und trotz eines großen Verlustes der Unmittelbarkeit sind Nationen nicht klüger als das einzelne Individuum. Hinzu kommt, dass Nationen für ihre Verfehlungen viel länger zahlen müssen als einzelne Individuen. Das kollektive Gedächtnis der Völker hat einen anderen Bezugsrahmen als der fliegengleiche Horizont eines einzelnen menschlichen Wesens.

Kairos, dieser unfrisierte Hallodri, wandert zwar auch durch die Gemächer der großen Geschichte, allerdings immer nur in der Jetzt-Zeit. Im Hier und Heute kann es passieren, dass eine Nation, vertreten durch Regierungen oder einzelne Staatsmänner oder Staatsfrauen eine Gelegenheit beim Schopfe packt, die andere vielleicht würden vorbeiziehen lassen. Die deutsche Einheit ist so ein Beispiel, das gut illustriert, wie die Hand nach Kairos Schopf griff und ihn festhielt.

Was den flüchtigen Gott aber noch nie geschert hat sind die Gelegenheiten, an denen Nationen sich ihres eigenen historischen Handelns besannen. Das interessiert den Kairos nicht, denn das liegt weit hinter ihm, da ist er längst nicht mehr zuhause. Ob und wie sich die Franzosen oder die Russen ihrer Revolutionen erinnern, ob und wie die Amerikaner über die Besiedelung des Kontinents nachdenken, ob und wie die Deutschen über den Holocaust oder die Türken über ihre Vergehen gegen das Volk der Armenier nachdenken, das interessiert Gott Kairos herzlich wenig.

Insofern ist es unsinnig, über den richtigen Zeitpunkt einer Aufarbeitung von Geschichte zu reflektieren. Aus der Geschichte, aus ihrer Geschichte lernen sollten alle Nationen. Wann sie mit bestimmten Lernprozessen beginnen, hängt immer von ihnen selbst und von jenen ab, die mit ihnen in Interaktion standen. Zu sagen, es gäbe dafür günstige und weniger günstige Zeitpunkte, das hänge von der jeweiligen diplomatischen Konstellation ab, muss eine Irritation hervorrufen, weil diese Behauptung eine These in sich trägt, die von einer eigenen Lernunwilligkeit zeugt.

Diese Lernunwilligkeit wird  hier und heute getragen von einem Nützlichkeitsdenken, das perverser eigentlich nicht sein kann. Weil die Türkei momentan dafür sorgt, dass viele Flüchtlinge aus dem Nahen Osten nicht nach Zentraleuropa kommen, soll der Völkermord des osmanischen Reiches an den Armeniern vor einhundert Jahren in Deutschland nicht öffentlich thematisiert werden dürfen. Eine solche Denkweise unterstellt, eine nationale Reflexion über den Tatbestand des Völkermordes unterläge der Wahl eines günstigen Zeitpunktes. Das ist schräg und aus dem Munde eines Deutschen ungeheuerlich. Verbrechen gegen die Menschlichkeit unterliegen in ihrer Ahndung keinen Opportunitätsprinzipien.

Diejenigen, die jetzt hinsichtlich der im Bundestag verhandelten Armenien-Resolution einer Art des Appeasements bezichtigt werden, werden weit unter der eigenen Gefahr gehandelt. Es ist kein Appeasement, über den richtigen Zeitpunkt zur Thematisierung von Völkermord zu reflektieren. Es ist ein Grad an politischer Perversion, der als Wurzel dessen bezeichnet werden kann, was eigentlich beklagt werden soll.